Kapitel 1
Langsam versank die Sonne hinter den Bergkuppen. Der Horizont erstrahlte in orange-rosa Farben und wechselte in einen dunklen Fliederton. Der tiefe Klang einer Glocke hallte über das Gelände der Tempelanlage und läutete die Nacht ein. Eilig sammelten sich die letzten Nachzügler der Tempelbewohner in ihren Quartieren.
„Wo ist Kei?!“, rief Sato, ein Mann Mitte zwanzig, nachdem er die Reihen der Schüler geprüft hatte. „Wo steckt dieser Nichtsnutz nur wieder? Anwärter haben zum Gongschlag zur Nachtruhe anzutreten! Das kann doch einfach nicht wahr sein! Immer wieder Kei! Was sollen wir nur mit ihm machen?“ Er fuhr sich genervt mit der Hand durch das Haar, das er in einem Pferdeschwanz trug. Als Wächter und Lehrer des Tempels betreute er einen Teil der Jugendlichen und Kinder bei ihrer Ausbildung.
Ein etwas schlaksig wirkender Junge mit kinnlangen Haaren trat einen Schritt vor und sagte: „Ich glaube, ich weiß, wo er sich aufhält …“
Ruhig und gemächlich floss der Strom zwischen den Hügelketten hindurch und am Ufer zirpten Insekten im Schilf. Kei genoss die Stille und den warmen Frühlingswind. Das schwarze Haar umspielte sein etwas rundliches Gesicht, das ihn, zu seinem Missfallen, jünger wirken ließ als er war. Er war ein sogenannter Wächteranwärter, einer der Schüler, die kurz vor ihrer Abschlussprüfung zum vollwertigen Wächter standen.
Die Entstehung ihrer Gemeinde reichte weit zurück in die Vergangenheit, als vor vielen Jahrzehnten unter den Städten am Fluss noch erbitterte Kriege gegeneinander gefochten worden waren. Zu den damaligen Zeiten versuchten die verschiedenen Clans sich gegenseitig zu unterwerfen und ihre Macht mit dem Besitz der sagenumwobenen Drachenstatue zu untermauern. Die Drachenstatue – so hieß es – war mit magischen Fähigkeiten versehen und derjenige, der sie besaß, hatte die Befehlsgewalt über den mächtigen Flussgott – den Drachen O-Ryuu.
Zuletzt hatte eine unvergleichliche Schlacht beinahe die gesamte Region entvölkert, sodass die verbleibenden Clans sich auf ein Friedensabkommen einigten, um den Krieg endgültig zu beenden. Das Abkommen sah vor, eine Tempelanlage zu erbauen, in der fortan Mitglieder aus jeder Gemeinde leben sollten. Ihre Aufgabe bestand darin die Drachenstatue gleichermaßen zu beschützen und zu verehren. Seither waren viele Jahrzehnte vergangen und ob die Statue tatsächlich magische Kräfte besaß, war weder den Tempelbewohnern noch den Gemeinden am Fluss in Erinnerung geblieben. Dennoch überdauerte der Mythos um die Statue nach wie vor und die Tempelgemeinschaft pflegte die alten Traditionen und sah sich als Hüter des Friedens.
In diesem Moment kümmerte Kei sich jedoch herzlich wenig um die Vergangenheit und seine Pflichten. Er hatte sich, trotz Verbots, vom Tempel davongeschlichen und war hinunter zum Fluss gegangen. Kei trug ein grau-blaues Baumwollgewand, das er vor der Brust übereinandergeschlagen und mit einer dunkelblauen Schärpe fixiert hatte. Er saß auf einem großen, rundlichen Felsbrocken am Wasser. Der Fels war noch immer warm vom Tag und fühlte sich rau unter seinen Fingern an. Seine Sandalen lagen achtlos neben ihm am sandigen Ufer und seine nackten Füße baumelten im kühlen Wasser. Zu seiner Rechten steckte eine Papierlaterne mit Blütenbemalung an einem Holzstab in der Erde und warf ihr flackerndes orange-gelbes Licht auf die naheliegende Wasseroberfläche. Die Sonne verschwand inzwischen völlig hinter den Bergen und nur noch ein dünner Streifen glomm am Himmel, bevor sich die Nacht gänzlich über das Land legen würde. Kei schloss die Augen und stimmte eine Melodie aus Kindertagen an. Sie war eine der wenigen Erinnerungen aus der Zeit, bevor er mit sechs Jahren in den Tempel gekommen war.
Ein Plätschern im Wasser weckte seine Aufmerksamkeit und sein Blick richtete sich auf die seichten Wellen, die wenig später vom Strom wieder verwischt wurden. Wahrscheinlich hatte nur ein großer Fisch nach einem Insekt geschnappt und Keis Interesse verflog. Er sang weiter und sah zu den Sternen, die in weiter Ferne am Himmel glommen. Etwas wie Sehnsucht erfüllte ihn. Schon seit längerem verspürte er das Gefühl nicht am richtigen Ort zu sein. Aber wo wollte er eigentlich hin? Das wusste er selbst nicht genau, eigentlich nur fort von hier.
Er verstummte, die Stimmung war hinüber. Diese trüben Gedanken waren ätzend, sie bedrückten ihn und am Ende war er nur wieder deprimiert. Er rutschte vom Fels und angelte nach seinen Sandalen. Gerade als er sie an den Füßen hatte und sich wieder aufrichtete, riss ihn etwas jäh aus seinen Gedanken und sein Puls schnellte in die Höhe. Weiße, nackte Beine ragten nur wenige Schritte von ihm entfernt aus dem Wasser. Vor ihm stand eine blasse Gestalt mit langen, wirren schwarzen Haaren. Sie öffnete ihren Mund und begann zu sprechen, doch anstelle von Worten drangen unbekannte Töne an Keis Ohren, die seinen Kopf fast zum Platzen brachten. Er erschrak so sehr, dass er mit einem Aufschrei nach hinten wich und dabei über den Stab seiner Lampe stolperte. Er stürzte unsanft zu Boden und sein Kopf prallte mit einem dumpfen Schlag auf, sodass ihm schwarz vor Augen wurde.
Kei wusste nicht, wie lang er ohnmächtig gewesen war, aber als er wieder zur Besinnung kam, hörte er eine Stimme. Allerdings klang es so, als halle sie in einem unendlichen Echo durch seinen Schädel, es war furchtbar und Kei wollte, dass es aufhörte.
„Hallououo könnt Ihr michich hörenen? Komomomt zu Eueuch“, echote die Stimme.
Mühsam öffnete Kei die Augen. Er brauchte einen Moment, bevor die verschwommenen Linien zu einem deutlichen Bild wurden und auch das nervtötende Echo aufhörte.
„Seid Ihr in Ordnung?“
„Ja …“, antwortete Kei zögernd und blickte in das fremde Gesicht eines jungen Mannes. Im Licht der Lampe erkannte Kei hohe Wangenknochen, eine gebogene Nase, dunkle Augen und schulterlanges schwarzes Haar, das fransig in die Stirn hing. Kei setzte sich sehr langsam auf und betastete behutsam die dicke Beule an seinem Hinterkopf.
„Ich glaube, es geht wieder …“, sagte er, wohl auch um sich selbst zu beruhigen. Der Fremde sah Kei mit einer Mischung aus Erleichterung und Besorgnis an und half ihm auf die Beine.
„Keine Platzwunde? Da bin ich aber beruhigt. Ihr solltet trotzdem besser noch vorsichtig sein.“
„Wisst Ihr, wie lang ich hier gelegen habe?“, fragte Kei.
„Es kann nicht lang gewesen sein“, sagte der Fremde und berichtete: „Ich habe mich dort oben an der Böschung ausgeruht und muss eingeschlafen sein. Ich habe mich nämlich hoffnungslos verlaufen …“
Keis Aufmerksamkeit driftete ab und er sah argwöhnisch auf die dunkle Wasseroberfläche. Hatte er sich das vielleicht nur eingebildet? Oder war er einfach abgerutscht, hatte sich den Kopf gestoßen und dann fantasiert? Aber ergab das einen Sinn? Sein Schädel dröhnte noch immer gewaltig. Kam das vom Aufprall oder diesen merkwürdigen Lauten, die er gehört hatte?
Plötzlich wurde Kei bewusst, dass der Fremde immer noch erzählte. Er hatte ihm gar nicht zugehört und das Meiste verpasst. Dieser berichtete lebhaft: „ … dabei bin ich von der Böschung abgerutscht und dann sah ich das Licht am Ufer. Ich bin gleich hinüber gelaufen, aber kaum war ich bei Euch, kamt Ihr auch schon wieder zu Bewusstsein.“
„Tut mir leid für die Umstände“, sagte Kei zerknirscht. „Ich hoffe, Ihr habt Euch bei dem Sturz nicht verletzt?“
„Ich habe mir den Fuß vertreten, fürchte ich. Aber das ist nicht der Rede wert, wirklich! Ihr könnt Euch sicher vorstellen, wie froh ich bin, einem Menschen zu begegnen!“
Kei hüstelte nervös. „Ich hoffe, es ist nicht zu schmerzhaft? Und vielen Dank, dass Ihr nach mir gesehen habt!“ Kei verbeugte sich flüchtig und der Fremde erwiderte diese höflich.
„Ihr habt Euch also im Wald verlaufen?“, fragte Kei behutsam und klopfte sich den Sand vom Gewand.
Der Fremde nickte zustimmend und begann vom Neuen: „Angeblich hätte ich in kurzer Zeit an der Anlage ankommen sollen, aber der Weg war an manchen Stellen so schlecht zu finden … teilweise waren dort einfach nur Wiesen ohne Markierung und in der Dämmerung verlor ich die Orientierung … Aber das habt Ihr ja bereits gehört. Ihr kennt die Tempelanlage nicht zufälligerweise?“
Kei stutzte. „Die Tempelanlage …? “, wiederholte er zögernd.
„Des Drachen O-Ryuu?“, ergänzte der Fremde. „Wie gesagt, wurde sie mir in Nishikawa sehr empfohlen.“
Nishikawa war eine florierende Stadt ganz in der Nähe des Tempels. Früher waren von dort viele Reisende und Pilger zu ihnen in die Anlage gekommen, doch inzwischen beschränkten sich die Besucher auf wenige Personen im Jahr. Kei musterte den Fremden unauffällig; er trug eine fremdländische beige-goldene Jacke aus einem fließenden Stoff mit kunstvollen Stickereien. Dazu eine schwarze Hose aus weicher Baumwolle und schwarz gefärbte Halbstiefel aus Leder mit Verzierungen und einer soliden Sohle. Kei vermutete, dass er der Spross einer reichen Familie sein musste, so wie er gekleidet war. Wie ein gewöhnlicher Reisender sah er jedenfalls nicht aus. Allerdings erschien es Kei recht riskant allein zu reisen, die teure Kleidung musste allerlei Blicke auf sich ziehen und lichtscheues Gesindel anlocken. Wie dem auch sei, Kei konnte ihn schlecht hier draußen zurücklassen und etwas an der Ausstrahlung des anderen wirkte sympathisch auf ihn. Jedenfalls war er sicherlich nicht gefährlich und seinen Fuß hatte er sich obendrein verletzt.
„Der Weg gleicht an einigen Stellen eher einem Trampelpfad und ist für Fremde sicherlich schlecht zu erkennen, besonders im Dunkeln“, antwortete Kei. „Aber Ihr habt Glück, denn ich lebe in der Anlage und bringe Euch gern dort hin. Allerdings …“ Kei stockte, er hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass er sich heimlich aus dem Tempel geschlichen hatte und würde er nun – mit einem Fremden noch dazu – in die Anlage spazieren, gäbe es Ärger ohne Grenzen.
Der Unbekannte schien Keis Zögern nicht zu bemerken, stattdessen sagte er erfreut: „Was für ein Glück! Das Schicksal hat uns heute Nacht wohl zusammengeführt.“
„Es gibt da allerdings ein Problem“, gestand Kei, „Ich hätte gar nicht draußen sein dürfen und abends werden auch keine Besucher mehr auf das Gelände gelassen. Ich kann Euch also nicht einfach durch das Tor einlassen.“ Die anfängliche Freude des jungen Mannes wich einem ratlosen Blick. „Das bedeutet“, erklärte Kei, „dass Ihr und ich auf einem anderen Weg in das Innere gelangen müssen, aber dieser Weg ist etwas … unkonventionell.“
„Oh, verstehe … Aber gibt es nicht großen Ärger, wenn das herauskommt?“, fragte der Mann. „Ich möchte Euch keine Umstände bereiten. Allerdings würde ich auch ungern eine Nacht im Freien verbringen …“
Das glaube ich gern, dachte Kei. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie der Fremde in der Wildnis zurechtkommen sollte.
„Lasst das meine Sorge sein, ich stehe in Eurer Schuld. Nehmt meine Laterne und haltet Euch dicht hinter mir.“ Kei wollte sich gerade in Bewegung setzen, als er innehielt. „Da fällt mir ein, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Kei Kiriya.“
„Ich bin Kazuo Kurokawa.“
Die beiden Männer erklommen die sanft ansteigende Böschung, wobei Kei bemerkte, dass Kurokawa leicht humpelte; offenbar hatte er stärkere Schmerzen, als er zugeben wollte. Kei bahnte ihnen im Schein der tanzenden Lampe den Weg durch Sträucher und niedrige Bäume. Der Trampelpfad führte sie in westlicher Richtung zur Anlage und der Fluss begleitete sie noch ein Stück, bevor er hinter einer Biegung verschwand. Nach einiger Zeit tauchten Lichter von Steinlaternen zwischen den Bäumen auf, die in der Ferne einen großen, rechteckig angelegten Platz säumten und die angrenzende Mauer erhellten. Kei blieb stehen und drehte sich zu Kurokawa herum.
„Wir sind da“, sagte er und deutete vor sich. „Dort vorn liegt die Anlage. Ab hier müssen wir sehr vorsichtig sein, da das Gelände bei Nacht von den Nachtwächtern kontrolliert wird. Die Lampe muss ich löschen, damit keiner auf uns aufmerksam wird. Ihr seht die Mauer mit dem großen Tor in der Mitte? Daran müssen wir vorbei, um an das andere Ende der Mauer zu gelangen. Das Tor wird bewacht, außerdem sind hier auch einige der Quartiere. Wir müssen also sehr leise sein.“
Kurokawa blickte hinüber zum Tor. Es ähnelte ein bisschen einem rechteckigen Haus und hatte links und rechts massive, steinerne Wände aus hellgrauen und roten Ziegelsteinen. Flache Stufen führten zum eigentlichen hölzernen Tor hinauf, das unter dem seitlich geschwungenen Dach aus gelben Ziegeln verborgen lag. Oben auf den Dachpfosten thronten zwei kunstvolle Karpfen und darunter neben dem Tor zwei imposante, schlanke Drachen auf steinernen Sockeln. Sie hatten gehörnte Schädel, einen vergoldeten Rückenkamm bis hin zum Schweif und eine bärtige Schnauze.
„Wir müssen an der ganzen Mauer entlang?“, fragte Kurokawa zweifelnd. „Dort, wo die vielen Steinlaternen den Vorplatz erhellen? Kann man nicht einen großen Bogen schlagen?“
Kei schüttelte den Kopf. „Das Unterholz ist nicht nur dicht, sondern auch mit Pflanzen voller Stacheln durchzogen. Da gibt es kein Durchkommen. Wir machen das folgendermaßen: Zuerst laufe ich bis zum Tor und gebe Euch ein Zeichen, wenn Ihr mir folgen sollt. Im Schatten der Drachen können wir uns verbergen. Sobald der Weg frei ist, laufen wir weiter bis zum anderen Ende der Mauer, dann sind wir außer Sichtweite und schon fast am Ziel.“ Kurokawa nickte schweigend und ließ den Blick noch einmal über das Tor schweifen, während Kei die Kerze in der Laterne ausblies.
Ein alter knorriger Baum in ihrer Nähe diente als Versteck für die Lampe und Kei verbarg sie dort in einem Hohlraum im Stamm. Über ihren Köpfen ertönte plötzlich ein lang gezogener schriller Schrei, der Kurokawa und Kei das Blut in den Adern gefrieren ließ. Starr vor Schreck verharrten sie einen Moment.
„Was war das?“, wisperte Kurokawa nervös und späte in den dunklen Wipfel über sich.
Kei atmete erleichtert aus. „Nur ein Käuzchen“, erklärte er beruhigend, „aber ich habe mich auch ganz schön erschrocken.“
Der verkohlte Geruch der Laternen wehte zu ihnen herüber, als sie sich im Schatten des Waldes an die Mauer heranschlichen. Alles war mucksmäuschenstill, nur in der Ferne war das träge Rauschen des Flusses zu hören. Inzwischen war die Nacht abgekühlt und der Wind ließ die beiden jungen Männer frösteln.
Kei behielt das Haupttor konzentriert im Auge und lauschte angespannt. „Ich laufe nun los, Ihr wartet auf mein Zeichen“, wisperte er. Geduckt und mit schnellen Schritten eilte er los und erreichte unbemerkt das Tor. Kurze Zeit später winkte er Kurokawa zu sich. Auch er erreichte das Versteck hinter dem steinernen Drachen und beide verbargen sich im Schatten. Von der anderen Seite der Mauer drangen knirschende Schritte, das Rascheln von Kleidung und das leise Klirren von Wehrgehängen herüber.
Kei deutete zum Tor hinauf und Kurokawa sah, dass es neben dem übermannshohen Haupttor, das fest verschlossen war, eine weitere unauffällige Tür gab. Die Schritte wurden lauter und sie konnten undeutlich die Stimme eines Wächters hören. Kei und Kurokawa pressten sich tiefer zwischen Mauer und Statue, neben ihnen knarrte das Holz, als die Tür mit einem dumpfen Geräusch aufgeschoben wurde. Einer der Wächter trat über die Schwelle, ging einige Schritte hinaus und spähte langsam über den Platz. Er trug ein dunkelbraunes, knielanges Gewand, das am unteren Saum mit weißen Stickereien verziert war, Baumwollhosen dunkelblaue Armschoner und Schnürsandalen. Um seinen Hals hing eine lange Kette aus Holzperlen. In der Hand hielt er eine beeindruckende Glefe – einen Stab mit einer langen Klinge an der Spitze. Seine Hüfte zierte ein aufwendig gearbeitetes Wehrgehänge samt Schwert.
„Irgendwas da draußen?“, erschallte plötzlich eine Frauenstimme dicht über den Köpfen der jungen Männer. Sie hielten nervös den Atem an und wagten sich nicht zu bewegen. Die Wächterin war unbemerkt durch die Tür getreten und stand nur wenige Zentimeter von ihnen entfernt.
„Nein, alles ruhig“, antwortete der Mann, wand sich um und gemeinsam gingen sie zurück. Das schleifende Holz auf dem Stein sagte ihnen, dass die Tür wieder geschlossen war. Erleichtert atmete Kei aus, aber die Anspannung hielt noch an. Er erhob sich lautlos und bedeutete Kurokawa mit der Hand ihm zu folgen. Eilig liefen sie das letzte Stück an der Mauer entlang, bogen am hinteren Ende um die Ecke, wo die Wand in den Wald hineinführte und liefen ein Stück weiter. Bei einem ausladenden Busch blieb Kei endlich stehen und sah Kurokawa erleichtert an.
„Den ersten Teil haben wir geschafft“, erklärte er lächelnd. Kurokawa stützte sich mit einer Hand an der Mauer ab und rang nach Atem.
„Das war aufregender als erwartet“, keuchte er.
Kei schob die Zweige eines Busches auseinander und ein Felsbrocken kam zum Vorschein.
„Wir müssen von dem Fels auf die Mauer springen, werdet Ihr das schaffen? Oder tut Euer Fuß zu sehr weh?“, fragte Kei und sah Kurokawa abschätzend an.
„Ich denke schon, dass ich den Sprung schaffe“, antwortete Kurokawa und versuchte den Abstand zur Mauer einzuschätzen.
„Ich helfe Euch“, versicherte Kei.
Er sprang leichtfüßig auf den Fels, positionierte sich zur Wand und machte einen gewaltigen Satz hinüber. Mit den Händen bekam er die obere Kante der Mauer zu fassen und seine Füße stemmten sich gegen die Wand. Er schwang ein Bein hinauf und zog den Körper hinterher, bis er auf der Mauer hockte.
Kurokawa war über die Leichtigkeit erstaunt und darüber, welche Kraft sich hinter Keis unscheinbarem Aussehen verbarg. Nach kurzem Zögern stieg er ebenfalls auf den Fels. Der Abstand bis zur Mauer und die zu überwindende Höhe waren weiter als gedacht, dennoch nahm er Anlauf und sprang. Sein Fuß schmerzte und die Landung war etwas holprig, aber er bekam die Mauer zu fassen und Kei zog ihn am Handgelenk hinauf. Über ein Dach mit Mauervorsprüngen gelangten sie sicher hinunter und Kurokawa wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. Er blickte sich um, Gebäude versperrten die Sicht, doch zu ihrer linken Seite glitzerte die dunkle Wasseroberfläche eines großen Sees.
Kei deutete zu einem Gebäude direkt am See. „Das ist das Haupthaus unser Wohn- und Schlafraum. Da kann ich Euch bis morgen unterbringen.“
Das Gebäude erhob sich dunkel gegen den Nachthimmel. Die eine Hälfte des Bauwerks ragte bis über den See hinaus und war auf großen Pfählen errichtet worden, während der Rest auf dem Ufer stand. Kurokawa wollte schon darauf zugehen, als Kei ihn am Arm zurückhielt.
„Wartet! Wir können nicht einfach durch die Tür rein. Die Nachtwache läuft über das ganze Gelände.“
„Und wie kommen wir dann hinein?“, fragte Kurokawa.
„Über den Steg dort“, sagte Kei und deutete auf eine schwimmende Plattform im See, die gut zwei Meter vom Ufer entfernt im Wasser lag. Ein Steg führte zur Rückseite des Hauptgebäudes, doch eine Verbindung zum Ufer gab es nicht. Kurokawa hätte es sich denken können, ohne springen, klettern und schleichen kam man hier wohl nirgendwo hinein.
„Ich vermute, wir müssen da rüber?“, fragte er.
„Genau! Allerdings können die Planken etwas rutschig sein, seid also vorsichtig bei der Landung.“
Kei versicherte sich zunächst, ob die Luft rein war, dann eilten sie hinunter zum Ufer und Kei sprang geübt auf die Plattform. Kurokawa nahm einige Schritte Anlauf, als Kei ihm zuwinkte.
„Beeilt Euch!“, rief er. „Die Wächter kommen!“ Kurokawa blickte hastig über seine Schulter und sah in etwas Entfernung den Schein von Laternen. Eilig drehte er sich um und sprang, rutschte bei der Landung aus und schlitterte Kei in die Arme. Letzterer packte ihn am Arm, sie liefen über den Steg zum Haupthaus und retteten sich hinter die Fassade. Als Kei vorsichtig um die Ecke spähte, zuckte er schnell wieder zurück, die Wächter hatten das Ufer erreicht und sondierten die Lage, wenig später waren sie verschwunden und Kei atmete erleichtert aus.
„Geschafft!“, sagte er und ließ sich auf den Boden der Terrasse sinken. „Sie haben uns nicht bemerkt!“
Kurokawa war ebenfalls erleichtert, betastete jedoch vorsichtig seinen Knöchel. Nun, da sie es bis an ihr Ziel geschafft hatten und die Anspannung von ihnen abfiel, schweifte sein Blick über die Umgebung. Er trat an das Geländer der Terrasse und sah sich um. Vor ihm erstreckte sich ein anmutiger See bis an das weit entfernt liegende Ufer. Das Wasser war so klar und ruhig, dass sich die zahlreichen Sterne darin spiegelten und eine unwirkliche Welt schufen. Der kühle Wind streifte durch die Bäume und Büsche, die den See säumten, es war ein idyllischer Anblick.
„Es ist wirklich schön hier“, stellte Kurokawa fest, „diese friedliche Stille. Ich bin gespannt, wie es bei Tag aussieht.“ Kei, stützte sich vom Boden ab und trat an Kurokawas Seite.
„Ich mag beides, den See bei Tag und bei Nacht. Aber nachts ist man ungestörter. Keiner, der ständig was von einem will, kein Lärm der anderen Bewohner. Manchmal vergesse ich, wie schön es hier sein kann.“ Kurokawa sah fragend zu Kei.
„Dürft Ihr denn nie heraus?“, fragte Kurokawa und klang ein wenig bestürzt.
„Doch“, antwortete Kei, „aber wir dürfen nur bis nach Nishikawa zum Einkaufen oder auf die Felder, um sie zu bearbeiten. Ansonsten sind wir immer hier. Wobei, auf der anderen Seite des Sees gibt es auch einen Friedhof, da kommen wir auch ab und zu hin und auf das Trainingsgelände. Aber das war‘s.“ Kei seufzte leise. „Manchmal glaube ich, ich bin nicht dafür gemacht, Wächter zu werden. Dieses eintönige Leben, die Regeln und Vorschriften, der immer gleiche Alltag … Das macht mich einfach nicht glücklich.“
Kurokawa wusste nicht, was er antworten sollte und schwieg. Irgendwie tat ihm Kei leid, da ihn sein Leben nicht glücklich zu machen schien. Ob es keine Alternativen für ihn gab?
Kei gähnte verhalten. „Verzeiht, ich habe zu viel gesagt“, entschuldigte er sich und sah Kurokawa flüchtig an. Er schämte sich, dass er einem Fremden so persönliche Sachen erzählt hatte, ohne über seine Worte nachzudenken. Es war einfach aus ihm herausgesprudelt. Schnell wechselte er das Thema: „Ich zeige Euch besser, wo Ihr heute Nacht schlafen könnt. Ihr müsst müde sein und es ist schon ziemlich spät.“
Plötzlich flog die Schiebetür hinter Kei auf, jemand packte ihn am Ohr und zog ihn hinein. Kei schrie überrascht auf, sein Ohr zwickte und zwiebelte unter dem festen Griff.
„Auauauau!“, jammerte er und stolperte ein paar Schritte in den dunklen Flur. Endlich kam er frei, ein Funke flackerte auf und kurze Zeit später erhellte eine Laterne den Gang. Kei sah in die grimmigen Gesichter dreier Wächter, die er nur zu genau kannte: Seine Ausbilder Sato und Ito, sowie eine Wächterin namens Sawada. Kei sank für einen Moment das Herz in die Hose und eine Mischung aus Reue und Trotz stiegen in ihm auf.
„Natürlich, wer auch sonst?!“, sagte Ito herablassend. Er war ein großer, breitschultriger Mann Anfang dreißig mit einer durchgängig finsteren Miene und kurzem Bürstenschnitt. Seine harten Gesichtszüge wurden durch den Schein der Lampe noch verstärkt und Kei fand, dass sein Gesicht Ähnlichkeit mit einem Oni – einem Oger-ähnlichen Geschöpf – hatte. Dass sie einander nicht leiden konnten, war kein Geheimnis, da ihre Charaktere nicht unterschiedlicher hätten sein können und so kam es, dass beide regelmäßig aneinander gerieten. Kei hasste Itos Unterricht, denn dieser war überkorrekt und tadelte die kleinste Kleinigkeit. Ito hingegen empfand Keis aufmüpfige Art als respektlos und als Beleidigung gegenüber seiner Person. Sein Stolz gebot ihm dem Schülern Gehorsam einzutrichtern und sei es mit Gewalt.
Kei funkelte Ito unwillkürlich an, allein seine Anwesenheit brachte sein Gemüt in Wallung. Ito, dem Keis Anfeindung nicht entging, baute sich empört vor ihm auf und Kei konnte beobachten, wie auf seiner Stirn eine Ader zu pochen begann. Ein eindeutiges Zeichen, dass Ito sich nur mit aller Mühe zurückhielt, nicht auszurasten. Sato, der Kei am Ohr gepackt hatte, rüttelte ihn und unterbrach so das Blickduell der beiden.
„Halt dich zurück, Kei!“, befahl er knapp. Er war zierlicher gebaut und etwas kleiner als Ito. Mit Sato kam Kei allerdings gut aus, denn dieser war verständnisvoller und geduldiger als Ito, zudem auch schon mal zu einem Scherz aufgelegt, was ihn bei den Schülern generell beliebt machte. Ein leises Räuspern ließ alle Beteiligten kurzfristig erstarren und jeder trat einen Schritt zurück. Watanabe, das Oberhaupt des Tempels, trat aus der Dunkelheit in ihre Mitte und blieb ruhig vor Kei stehen. Sein Gesicht war von den vielen Jahren gezeichnet und mit tiefen Falten überzogen. Das weiße Haar auf seinem Kopf war spärlich und dünn, genauso wie sein langer Bart, der ihm fast bis auf die Brust reichte. Alle Bewohner respektierten ihn und behandelten ihn mit Ehrfurcht, denn er war ein sehr weiser Mann und auch wenn er inzwischen in die Jahre gekommen war, konnte er es mit den jüngeren Wächtern aufnehmen. Was er an Körperkraft und Jugend eingebüßt hatte, machte er durch Klugheit, Geschick und Erfahrung wieder wett. Watanabe gehörte zur vierten Generation der Tempelbewohner und war der Ururenkel einer der Gründer der Anlage.
„Kei …“, stellte der alte Mönch leise fest, er klang dabei jedoch nicht überrascht. Kei presste die Lippen zusammen, in Gedanken suchte er bereits nach Ausreden, nach Entschuldigungen oder Rechtfertigungen, da er mit Tadel, Rügen und Wut rechnete. „Du warst schon wieder außerhalb der Anlage!“, sagte Watanabe streng.
„Nicht außerhalb! Ich war nur …“, begann Kei, doch der Alte schnitt ihm das Wort ab.
„Halt den Mund, Kei!“, befahl der Mönch knapp. „Du bist alt genug, Verantwortung für dein Handeln zu tragen, also stehe auch zu deinen Taten! Jungen in deinem Alter werden in unserer Gemeinschaft in den Stand des Wächters erhoben, sie gelten als erwachsen und genießen neben allen Freiheiten auch alle Verpflichtungen. Bei dir aber frage ich mich, ob deine geistige Reife ausreicht, dich wie die anderen in diesen Stand zu erheben. Denke über meine Worte nach und darüber, was dein Verhalten für die Gemeinschaft bedeutet. Sato – als Keis Ausbilder übernimmst du alles Weitere. Sawada – bitte unseren Gast hinein.“ Watanabe deutete auf die offene Schiebetür. Sawada trat hinaus, verneigte sich leicht und bat den fremden jungen Mann herein, der bis jetzt schweigend draußen gewartet hatte. Kurokawa betrat verlegen den Flur und blieb zurückhaltend stehen.
„Bitte verzeiht, dass wir Euch erst jetzt begrüßen“, sprach ihn Watanabe freundlich an. „Bitte verbringt die Nacht bei uns. Wie ich sehe, habt ihr Euren Fuß verletzt. Wir werden uns darum kümmern. Sawada wird Euch ein Zimmer vorbereiten. Bitte trinkt derweilen einen Tee mit mir. Kommt mit!“
Während die Wächterin ging, um ein Zimmer herzurichten, nahm der alte Mönch Kurokawa mit sich. Ito folgte ihnen kurz entschlossen, wahrscheinlich, um ein Auge auf den Neuankömmling zu werfen. Nur Kei und Sato blieben zurück.
„Nun muss ich dich wieder bestrafen“, seufzte Sato schwer und schob Kei durch die Flure hinaus auf den Platz zwischen Gemeinschaftshaus und Tempelrückseite. Sato blieb unschlüssig stehen und sann noch über eine angemessene Strafe nach, als Ito mit großen Schritten auf den Platz und geradewegs auf Kei zustürmte. Scheinbar kannte seine angestaute Wut, jetzt, da sie unter sich waren, keine Zurückhaltung mehr. Draußen angekommen, platzte es aus ihm heraus: „Du bist eine Schande für unsere Gemeinschaft! Wenn es nach mir ginge, würdest du grün und blau geschlagen, dass du dich drei Tage nicht mehr rühren kannst! Wie kannst du uns allen nur so respektlos gegenüber auftreten? Glaubst du, du bist etwas Besseres? Hältst du dich für besonders? Dann lass mich dir sagen, was du bist: ein niemand! Ein Taugenichts! Jemand wie du, der weder seine Pflichten kennt, noch unsere Regeln achtet, hat hier nichts verloren! Wir täten gut daran, dich vor die Tür zu setzen!“
Kei biss die Zähne zusammen und funkelte seinen Lehrer ärgerlich an, er war kurz davor, selbst vor Wut zu platzen. „So ein missratenes Kind wie dich haben deine Eltern sicher mit Freuden von zu Hause weggegeben und wir müssen es ausbaden!“, schoss Ito hinterher. Doch das ging zu weit!
„Was weißt du schon von meinen Eltern?!“, fauchte Kei zurück. „Außerdem, fass dir lieber an die eigene Nase! Hättest du nicht solche Komplexe, müsstest du dich nicht über Schwächere erheben, indem du sie schikanierst und niedermachst! Für Gegner auf Augenhöhe bist du doch viel zu feige!“ Itos Kopf schwoll gefährlich rot an, sodass selbst die pochende Ader auf der Stirn nicht mehr zu sehen war. Der Lehrer holte zum Schlag aus, als Kei mit einem lauten Klatschen beinahe von den Füßen gerissen wurde. Sato war seinem Kollegen zuvor gekommen. Sein Schüler strauchelte einen Schritt zurück und hielt sich die schmerzende Wange.
„Du vergisst deinen Platz, Kei!“, sagte Sato barsch und knetete die zwiebelnde Hand. Der Schlag hatte wirklich gesessen. „Entschuldige dich auf der Stelle!“, befahl er. Kei zog die Brauen widerwillig zusammen, er sah es überhaupt nicht ein, sich bei Ito zu entschuldigen.
Er hat mich absichtlich beleidigt, ich habe dagegen nur die Wahrheit gesagt, dachte er wütend.
„Kei!“, knurrte Sato drohend und Kei verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust.
„Tschuldigung“, murrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und ohne Ito eines Blickes zu würdigen. Sato schüttelte entrüstet den Kopf und Ito sah angewidert auf Kei herab.
„Morgen entschuldigst du dich angemessen. Ich bin sehr enttäuscht von dir!“, sagte Sato. „Du verbringst die Nacht heute am Fels.“
„Sorge dafür, dass er noch etwas hat, woran er sich erinnern kann! Oder ich erledige es selbst!“, warf Ito ein und schob sich die Ärmel nach oben. Die Aussicht, Kei eine Tracht Prügel zu verpassen, zeichnete ihm eine widerwärtige Freude auf das Gesicht, die Kei umso mehr verabscheute und seinen Hass auf ihn schier ins Unermessliche steigen ließ.
„Nicht nötig, das übernehme ich schon!“, beschwichtigte Sato. „Du kannst zurückgehen, ich kümmere mich um Kei. Immerhin bin ich für ihn verantwortlich.“ Ito schnaubte verächtlich, machte aber auf dem Absatz kehrt und marschierte noch immer wütend davon. Sato griff Kei und zog ihn mit sich. Kei sträubte sich und befreite seinen Arm mit einem Ruck.
„Ich kann alleine gehen!“, fauchte er patzig. „Ich laufe sicher nicht weg!“ Sato seufzte schwer und ließ Kei gewähren. Gemeinsam gingen sie zu einem Findling, der in der Nähe des Sees aus dem Boden ragte, nicht weit von der Stelle, wo Kei zuvor mit Kurokawa über die Mauer gesprungen war. Dort wurden ungehorsame Schülerinnen und Schüler angebunden und mussten ihre Strafe absitzen. Wie viele Stunden seines Lebens Kei hier schon verbracht hatte, wusste er nicht. Sato band Kei sitzend am Fels fest, sodass er sich kaum noch einen Zentimeter rühren konnte. Der Strick scheuerte auf der Haut, der Stein am Rücken und durch die sitzende Haltung taten einem bald die Beine entsetzlich weh.
„Den Rest der Nacht verbringst du hier. Denke darüber nach, was du gemacht hast. Morgen Vormittag kommst du zu mir, bis dahin überlege ich mir eine angemessene Strafe.“ Kei erwiderte nichts und Sato ließ ihn allein.
Es wird sicher viel bringen hier draußen am Fels zu sitzen und darüber nachzudenken, dachte Kei verächtlich und stierte vor sich hin. Bereits jetzt taten ihm Arme, Beine und Rücken weh, aber es half ja nichts, sich dafür die restlichen Stunden selbst zu bemitleiden. Kei blickte betrübt hinüber zum See, der so friedlich dalag. Er fühlte sich so fehl am Platz. Eigentlich sollte er sich nicht beschweren. Er kam mit den meisten Bewohnern der Anlage gut aus, er bekam eine sehr gute schulische Ausbildung und auch das Kampftraining war das Beste in der gesamten Region. Er brauchte nicht zu hungern, hatte ein Dach über dem Kopf und seine Aufgabe als Wächter der Drachenstatue war ehrenvoll. Sie sorgten für Frieden zwischen allen Gemeinden, die am Fluss siedelten. Aber dennoch … Warum war er trotzdem so unzufrieden? Die anderen Schüler hielten sich ja auch alle an die Regeln und es machte ihnen nichts aus. Zumindest meistens … Aber wie hielten sie das aus? Diesen alltäglichen Trott? Die immer gleich ablaufenden Tage mit all ihren einschränkenden Regeln. War er der Einzige, dem es so zuwider war? Vorschriften! Vorschriften! Vorschriften! Es nervte! Er zerrte an seinen Fesseln und wollte einfach nur weg, aber die Stricke gaben kein Stück nach. Frustriert ließ er sich wieder gegen den Fels sinken, nicht einmal aufstampfen konnte er, es war doch zum verrückt werden!
Die Zeit verging furchtbar zäh, doch irgendwie war Kei tatsächlich eingeschlafen. Der Schmerz in seinem steifen Nacken weckte ihn unsanft und er stöhnte leise, als er den Kopf langsam aufrichtete. All seine Muskeln waren schon völlig taub und starr und er fror. Es war stockfinster und totenstill. Wie viele Stunden musste er wohl noch ausharren? Diese Nacht war einfach schrecklich! Um sich von seiner misslichen Lage abzulenken und nicht völlig in Selbstmitleid zu versinken – im Grunde war er ja auch selbst schuld an seinem Zustand – blickte er hinüber zum See. Plötzlich wurde er auf vereinzelte schwache Lichter auf der anderen Uferseite aufmerksam. Wer oder was konnte das sein? Kei versuchte angestrengt etwas zu erkennen, aber die blauen und grünen Lichter waberten scheinbar nur an einem Ort umher. Waren es vielleicht Menschen, die dort mit Laternen herumhantierten? Aber was machten sie dort? Da drüben gab es doch nichts außer dem Friedhof! Endlich kam Kei ein Gedanke: In Schriften und Erzählungen aus vergangenen Tagen hatte er gelesen, dass auf Friedhöfen die Seelen der Verstorbenen in Form solcher Lichtkugeln existierten und Hitodama genannt wurden. Aber nie hätte er für möglich gehalten, dass diese real existierten! Fasziniert beobachtete er die träge schwebenden Hitodama, als mit einem Mal ein weiteres silbriges Licht zwischen ihnen auftauchte. Es wirbelte die Hitodama durcheinander, trieb sie vor sich her, sodass sich bald ein Lichterknäuel immer weiter in den Himmel erhob, bevor es mit einem Mal wie ein verglühendes Feuerwerk langsam in den See hinab sank und verschwand. Alles war wieder in Dunkelheit getaucht und eine Weile passierte nichts, doch plötzlich glommen die Lichter überall im See verteilt. Der Anblick war atemberaubend und so unwirklich, dass Kei sich nicht sicher war, ob er wieder träumte. Ganz in der Nähe tauchte aus der Tiefe des Sees der silbrige Schein an die Oberfläche und während seine Leuchtkraft immer schwächer wurde, gewann er immer mehr die Gestalt einer Person.
Keis Mund klappte vor Erstaunen auf und sein Herz begann zu rasen, als er erkannte, dass es sich bei der Gestalt um das Wesen vom Fluss handelte. Zwischen Neugierde und Unbehagen hin- und her gerissen, fixierte er die Gestalt, welche mit langsamen Schritten auf sein Ufer zukam. Während sie näher kam, hob sie den Arm und mit einem eleganten Schwenk ihrer Hand erhoben sich die Lichtkugeln wie aufsteigende Luftblasen, traten an die Oberfläche und erloschen. Nervös rutschte Kei auf seinem Hintern hin und her, unzählige Gedanken schossen durch seinen Kopf: Was ist das? Kommt das etwa hier rüber? Warum muss das ausgerechnet mir passieren? Ich Idiot musste ja unbedingt die Anlage verlassen und jetzt das! Ich hab’ keine Ahnung, was das ist, aber Wesen, die Menschen ähneln und über das Wasser schweben, bedeuten nichts Gutes, oder?! Vielleicht bilde ich mir das ja auch nur ein? So was kann doch gar nicht wirklich passieren? Das muss ein Traum sein! Genau – ich bin irgendwann eingeschlafen und das ist ein verdammt komischer Traum. Gut, beruhige dich, Kei. In einem Traum kann dir nichts passieren und deshalb brauchst du nicht nervös zu werden. Das ist doch ein Traum, oder? Oder?
Natürlich erhielt Kei von niemandem eine Antwort und inzwischen war der geisterhafte junge Mann bis an das Ufer herangetreten. Mit etwas Abstand blieb er stehen und sah neugierig auf Kei hinunter. Er lächelte. Kei überraschte diese Tatsache so sehr, dass sein Kopf wie leer gefegt war.
„Ähm … H-hallo?“, stammelte er verdutzt, nur um sich im nächsten Moment wieder selbst zu schelten. Oh man, Kei, du Idiot! ‚Hallo?‘ Ist das dein Ernst? Willst du so mit einem Geisterwesen, oder was das ist, eine Unterhaltung starten?!
Die Gestalt hob wie zum Gruß ihre Hand und wartete höflich am Ufer.
„Wer oder was bist du? Verstehst du meine Worte?“, fragte Kei unsicher. Langsam beruhigte er sich, er spürte, dass das Wesen ihm nichts Böses wollte. Es öffnete den Mund, um zu antworten, aber anstelle von Worten erklangen melodische, tiefe Töne. Kei keuchte überrascht. Unsichtbare Druckwellen erschütterten seinen Körper, mehr noch schienen sie alles zu durchdringen und zum Beben zu bringen – selbst den Fels, an den Kei gebunden war. Kei wollte schreien, aber er bekam keine Luft, seine Lunge wurde zusammengestaucht, sein Kopf hämmerte. Mit einem Mal war das Druckgefühl verschwunden und Kei atmete krampfhaft ein. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und ihm wurde bewusst, dass er zitterte. Das Gesicht des Wesens spiegelte eine Mischung aus Bestürzung und Betroffenheit wider.
„Was war das?“, keuchte Kei verstört und rang nach Atem, sein Puls raste.
Vorsichtig näherte sich das Wesen und ging langsam vor Kei in die Hocke. Es hob beschwichtigend eine Hand, als wolle es ihm sagen, dass er nichts zu befürchten habe, trotzdem reagierte Keis Körper nervös, seine Muskeln spannten sich an und er atmete flach und schnell. Die Gestalt streckte einen Arm nach Kei aus und legte ihre Hand behutsam auf seinen Kopf. Kei kniff unwillkürlich die Augen zusammen, doch sobald das Wesen ihn berührte, durchdrang ihn eine angenehme Wärme bis in die Zehenspitzen. Seine Anspannung verflog augenblicklich, stattdessen erfüllten ihn Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Vor Keis innerem Auge bildeten sich für den Bruchteil einer Sekunde Schemen einer lichtdurchfluteten Landschaft und eine Woge der Sehnsucht nach diesem Ort erfüllte sein Herz. Doch noch bevor er etwas Genaueres erkennen und seine Gefühle einordnen konnte, verschwand es wieder. Kei öffnete überrascht die Augen und seine Gefühle überschlugen sich dermaßen, dass er sich völlig verwirrt fühlte.
Das Wesen richtete sich wieder auf und wandte sich zum Gehen, aber Kei wollte es nicht fortlassen. „Warte!“, rief er schnell. „Bitte geh nicht!“ Wenn er das Wesen aufhalten wollte, musste er es irgendwie davon überzeugen, also sprudelte er einfach alle Gedanken hinaus, die ihm in den Sinn kamen. „Ich glaube, ich habe begriffen, was passiert ist. Das war deine Stimme, richtig? Menschen können deine Stimme nicht aushalten, deshalb kannst du in ihrer Anwesenheit nicht sprechen, oder?“ Die Gestalt nickte betrübt und setzte sich erneut in Bewegung.
„Halt!“, rief Kei. „Du meidest deshalb die Menschen, damit du ihnen nicht schadest, habe ich recht? Haben sie Angst vor dir? Ich habe keine Angst vor dir, siehst du? Bitte bleib!“ Die Gestalt wandte sich Kei zu und musterte ihn unschlüssig. „Du musst einen Grund haben, weshalb du dich ausgerechnet mir gezeigt hast, oder? Obwohl du sonst die Menschen meidest, nicht wahr?“ Die Gestalt nickte zögernd. „Na siehst du! Du dachtest, ich könnte dich verstehen, aber du wolltest mir nicht schaden, deshalb warst du eben so bestürzt, richtig?“ Die Gestalt nickte erneut, in ihrem Gesicht spiegelten sich Reue und Bedauern.
„Mir geht es wieder gut“, versicherte Kei, „du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es war ein Versehen. Suchst du jemanden, der dich versteht? Gibt es niemanden, mit dem du reden kannst? Brauchst du vielleicht Hilfe?“ Das Wesen tat ihm irgendwie leid. Vielleicht hatte es schon hunderte Male versucht, Kontakt aufzunehmen und alle hatten es aus Angst abgelehnt, vertrieben oder ähnliches. Menschen konnten grausam sein, wenn sie Angst hatten und etwas nicht in ihr Bild passte.
„Ich heiße übrigens Kei Kiriya. Ich lebe hier im Tempel. Ich würde mich freuen, wenn du bei mir bleibst und wenn ich dir irgendwie helfen kann, würde ich es gern versuchen. Wir finden schon einen Weg, ohne, dass du sprichst.“ Kei lächelte gewinnend und zaghaftes Vertrauen zeichnete sich auf das Gesicht seines Gegenübers. „Genau, du kannst mir ruhig trauen, wir versuchen es, okay? Als Erstes … hast du auch einen Namen?“ Das Wesen zuckte die Schultern.
„Du weißt es nicht? Wie wäre es, wenn ich mir einen für dich ausdenke? Ist das für dich in Ordnung?“ Das Wesen nickte zustimmend. „Also, lass dich anschauen …“
Die Gestalt war blass wie ein Geist, aber Geister hatten keine Füße, das war allseits bekannt. Es konnte außerdem seine Form ändern. In den Schriften, die Kei gelesen hatte, wurden die Wesen, die ihre Form änderten ‚Gestaltenwandler‘ genannt, aber irgendwie stellte sich Kei darunter etwas anderes vor. So wie das Wesen über das Wasser geschwebt war, erinnerte es ihn eher an eine Erscheinung, einen guten Geist.
„Ich finde Shiroki passt zu dir. ‚Shiro‘ wie ‚Weiß‘ und ‚Ki‘ wie ‚guter Geist‘“, erklärte Kei und damit war der Name beschlossen. „Wer oder was bist du eigentlich? Bist du wirklich eine Art Geist?“
Shiroki überlegte angestrengt, hatte er sich noch nie darüber Gedanken gemacht, oder wusste er nicht, wie er es Kei erklären sollte? Shiroki ging hinüber zum See, streckte die Hand hinein und schöpfte etwas Wasser daraus. Als er sich wieder aufrichtete, ließ er es von der Hand perlen und machte einen Schwenk mit dem Arm in Richtung der Oberfläche.
Kei zog fragend die Brauen zusammen, er begriff nicht, was seine neue Bekanntschaft ihm damit sagen wollte. „Bist du der See? Ähm, das Wasser?“, riet er unbeholfen. „Nein? Gehört dir der See? Aber du warst auch unten am Fluss … Vielleicht ein Wasserwesen? Gut, wir kommen der Sache näher … Vielleicht der Gebieter des Sees … des Wassers … des Wassers, ja?“ Shiroki wiegte den Kopf nachdenklich hin und her, anscheinend traf die Bezeichnung nicht völlig ins Schwarze, reichte aber aus.
„Weshalb hast du dich mir gezeigt?“, fragte Kei. Jetzt, da er aufgehört hatte, sich zu fürchten, betrachtete er Shiroki neugierig, der sich zu ihm hockte. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht, feine, edle Züge und einen schlanken, wohlgeformten Körper. Sein schwarzes Haar war so lang, dass es beinahe bis zu seinen Knien reichte. Shiroki deutete mit der Hand auf Keis Mund und zeichnete unsichtbare Wellen in die Luft.
„Oh …“, staunte Kei, „du hast mich singen gehört?“ Shiroki lächelte und nickte aufgeregt. „Das ist mir ein bisschen peinlich …“, gestand Kei verlegen. „Es war gar nicht für fremde Ohren gedacht …“ Shiroki legte die Hände auf seiner Brust übereinander, deutete erneut eine Melodie an und schloss träumerisch die Augen.
„Du meinst, mein Gesang hat dich berührt?“, vermutete Kei. Shiroki nickte lächelnd und Keis Wangen wurden ganz warm. „Das ist eine Melodie aus Kindertagen. Ich hatte sie ganz vergessen und plötzlich fiel sie mir wieder ein. Sag mal, als du mich am Kopf berührtest, sah ich Schemen einer Landschaft. Was war das für ein Ort?“
Shirokis Blick ruhte unbewegt auf Keis Gesicht, dann sah er ihm direkt in die Augen, als wolle er in ihnen etwas lesen oder ergründen. Keis Herz raste, Shirokis Blick schien ähnlich wie seine Stimme durch ihn hindurch zu dringen und über das rein Fleischliche hinaus etwas sehen zu können, was einem Menschen verwehrt blieb. Es war unmöglich, Shirokis Mimik zu entschlüsseln: War er besorgt? Erstaunt? Skeptisch? Plötzlich wich der ernste Ausdruck einem Lächeln und er deutete fragend auf die Fesseln.
Kei hob ungläubig die Brauen. Überging Shiroki seine Frage oder gab es dazu einfach nichts zu sagen? Oder wusste Shiroki vielleicht gar nicht, wovon er sprach? Vielleicht hatte nur er – Kei – diese Erscheinung gesehen und Shiroki wusste gar nichts davon? Durcheinander sah Kei an sich hinunter: „Warum ich hier angebunden bin? Ich habe gegen Regeln verstoßen. Ich habe das Gelände nachts verlassen und zur Strafe muss ich hier sitzen. Oder vielleicht sitze ich hier, weil ich einen meiner Lehrer beleidigt habe.“
Shiroki sah ihn mitleidig an, aber Keis Gedanken kreisten weiter um seine Frage, er wollte wissen, ob er sich die Erscheinung nur eingebildet hatte. „Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber … könntest du mich noch einmal berühren?“, fragte er.
Shiroki sah Kei lange in die Augen, als ob er überlegte, was das Richtige zu tun sei, doch schließlich griff er nach einer von Keis Händen und legte sie in seine. Erneut wurde Kei von einer warmen Welle ergriffen, Geborgenheit und Frieden machten sich in ihm breit. Das Licht, welches Shiroki zu Beginn seiner Erscheinung umgeben hatte, kehrte zurück, es wurde heller und schien sie völlig einzuhüllen. Es wurde so hell, dass Kei die Augen zusammenkneifen musste. Plötzlich blies ihm ein angenehmer warmer Windhauch entgegen und der süßliche Duft von Blumen lag in der Luft. Kei blinzelte, aber das Licht blendete zu sehr und er vermochte nichts zu erkennen. Doch nun war er sich sicher, dass in dem gleißenden Licht der Ort lag, nach dem er sich unbewusst gesehnt hatte. Fernab vom Tempel, den Bewohnern, den Städten am Fluss, vielleicht sogar fernab von dieser Welt … Er musste ihn nur noch finden!
„Kei, wach auf!“
Ein kalter Wasserschwall klatschte unvermittelt auf Keis Kopf. Ruckartig fuhr er in die Höhe, ein Schmerz durchzuckte ihn und katapultierte ihn augenblicklich in das Hier und Jetzt.
„W-was?“, fragte er verwirrt und sah sich einen Moment orientierungslos um. War nicht eben noch das Wesen – Shiroki – bei ihm gewesen?