Kapitel 1
Als Kei erwachte, spürte er zunächst einen dumpfen Schmerz am Kopf. Es war stockdunkel, ihm war schwindlig und der Boden schien zu schwanken. Er hörte ein gleichmäßiges Gluckern und Platschen, das Knarzen eines Bootes und seichter Wind traf ihn im Nacken. Es roch nach feuchtem Holz. Langsam wurde ihm bewusst, dass er an Bord eines Schiffes war. Er versuchte sich zu bewegen, aber ein Seil hinderte ihn daran und er begriff, dass seine Augen verbunden waren. Die Erinnerung traf ihn plötzlich und mit voller Wucht: Kazuo! Der Drache war Kazuo!
Hima hatte Kei überredet, mit dem Drachen zu sprechen, er hatte sich durch eine geheime Tür hinausgeschlichen und war am Ufer dem wahrhaftigen Drachen begegnet. Er hatte das Wesen trösten wollen und ihm vorgesungen, aber in diesem Moment war etwas passiert und plötzlich hatte Kazuo vor ihm gestanden. Blass und mager. Just in dem Augenblick, als sie sich wiederhatten, waren Soldaten Yamaukas über sie hergefallen und Kazuo hatte sich in einen tobenden Drachen verwandelt.
Auch jetzt noch konnte Kei es kaum begreifen. Was hatte das alles zu bedeuten? Was hatten sie ihm angetan?
„Er kommt zu sich“, sagte eine Männerstimme.
„Dann führt ihn vor“, antwortete eine Frau.
Starke Hände packten Kei und stellten ihn unsanft auf die Füße. Er wurde links und rechts eingeklemmt, seine Hände, die auf seinem Rücken verschnürt waren, fühlten sich taub an.
„Komm mit, Kleiner“, sagte die Männerstimme.
Keis Beine wollten ihn nicht recht halten und sein Kopf pochte, sodass die Soldaten ihn eher trugen, als dass er selbst ging. Die Planken knarrten unter ihren Schritten, verschiedene gedämpfte Stimmen waren zu hören, nach wenigen Metern blieben sie stehen.
„Herrin, er ist zu sich gekommen“, sagte die Männerstimme demutsvoll. Ein schwerer Stoff raschelte, Kei wurde ein kleines Stück weitergeführt und landete unsanft auf den Knien. Das Platschen des Wassers wurde dumpfer, der seichte Wind verebbte, offenbar war er nun in einem Innenraum des Schiffes.
„Nehmt ihm das Tuch ab!“, gebot eine Frauenstimme, es war die Herrin Yamaukas. Es ruckte nicht gerade feinfühlig an Keis Kopf und das Tuch glitt von seinen Augen. Obwohl das Licht nur schwach war und von einigen Laternen erzeugt wurde, musste Kei blinzeln, während sich seine Augen daran gewöhnten. Sein Kopf dröhnte und es war kaum möglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Wie schön, dich wiederzusehen, Tarou“, sagte die Herrin. Ihre Stimme klang freundlich und schneidend zugleich.
Kei blickte empor. Sie stand direkt vor ihm, sah aus schmalen Augen zu ihm hinunter und ihre Rüstung funkelte im Licht.
Höhnisch lächelnd fügte sie hinzu: „Oder sollte ich besser Kei Kiriya sagen?!“
Keis Augen weiteten sich überrascht. Woher kannte sie seinen Namen? Eines war klar, er war in eine Falle getappt. Aber wer steckte dahinter?
„Zerbrich dir nicht den Kopf. Ich weiß schon lange, wer du wirklich bist“, sagte die Herrscherin und schenkte sich aus einem bauchigen Krug eine klare Flüssigkeit in ein Schälchen. „Mein Informant hat beste Dienste geleistet und mich jederzeit auf dem Laufenden gehalten …“
„Euer Informant?“, forschte Kei und sein Puls schoss in die Höhe. „Etwa derjenige, der den Tempel verraten hat und für den Raub der Statue verantwortlich ist? Wer ist es? War es Ito? Aber der ist tot und wird Euch nichts mehr verraten!“
Die Herrin warf ihm einen Seitenblick zu und trank aus ihrem Schälchen. „Du weißt von Ito?“, fragte sie nach einer kurzen Pause.
Kei fühlte einen schwachen Triumph angesichts seiner Lage. „Ja!“, antwortete er schnippisch. „Einer unserer Informanten hat es uns erzählt. Er war es auch, der Ito tötete. Ihr braucht Euch nicht zu bemühen, nach den anderen zu suchen, sie wurden alle abgezogen und sind in Sicherheit.“
Oder tot, ergänzte Kei in Gedanken, was ihm einen eisigen Stich verpasste. Matsudas und Takumas Verluste waren nur schwer zu verkraften. Es hatte die Tempeldelegation erschüttert, als Hima ihnen von Itos Verrat an seinen Kameraden berichtet hatte. Sie waren der Drachenstatue, deren Raub alles veranlasst hatte, so nahegekommen und doch war sie ihnen zwischen den Fingern hindurchgeglitten wie Sand.
Die Herrscherin zuckte leicht die Schultern, es schien ihr nichts auszumachen, dass ihr Informant ums Leben gekommen war. Kei spürte, wie die Hitze in ihm aufstieg. Wie konnte ein Mensch nur so gleichgültig sein? Waren sie alle nur Spielfiguren, die ausgetauscht wurden, wie es der Herrin beliebte? Hatte selbst Ito seinen Zweck erfüllt, jetzt, da die Herrscherin den Drachen unterworfen hatte? Der Gedanke trieb Kei Schweißperlen auf die Stirn. Der Drache war Kazuo!
„Was habt Ihr mit Kazuo gemacht? Wo ist er?“, fragte Kei ungestüm und richtete sich etwas auf. Die Wachen zuckten leicht, bereit, den Gefangenen wieder in die Schranken zu weisen, doch ihre Herrin winkte ab. Sie stellte ihr Schälchen ab, rieb sich das Kinn und lächelte süffisant. Es schien ihr zu gefallen, Kei dabei zuzusehen, wie er aus der Haut fuhr, während sie alle Trümpfe in der Hand hielt.
Draußen vor dem Vorhang räusperte sich eine Männerstimme, kurz darauf trat ein Soldat ein und meldete die baldige Ankunft im Hafen.
„Ich schätze, wir müssen unsere Unterhaltung auf später verschieben“, sagte die Herrin. „Keine Sorge, wir sehen uns bald wieder. Du wirst dich sicher freuen Gast in meinem Hause zu sein. Allerdings müssen wir aufgrund der aktuellen Situation etwas an der Unterkunft sparen … Aber ich bin mir sicher, dass es dir in unserem Verlies gefallen wird.“ Sie wandte sich den beiden Soldaten zu, die an Keis Seite gewartet hatten. „Nehmt ihn mit und lasst ihn keinesfalls aus den Augen. Ihr wisst, was zu tun ist, zwei weitere sollen euch verstärken.“
Die Soldaten klemmten Kei erneut zwischen sich und führten ihn hinaus. Es war noch immer mitten in der Nacht und Lichter schimmerten vom Festland zu ihnen hinüber. Der Hafen Yamaukas lag direkt vor ihnen. Wind brauste um Keis Nase, während er zum Ufer blickte. Gerade erst war er den Fängen der Stadt entkommen, schon befand er sich wieder in ihrem eisernen Griff. Zwei weitere Schiffe glitten neben ihnen her. Nacheinander fuhren sie in den Hafen ein und wurden von der wartenden Arbeiterschaft vertäut. Die hohen Mauern mit dem gewaltigen Tor ragten wie der Schlund eines Ungetüms vor ihnen auf. Keis Kiefer pressten sich zusammen. Was würde jetzt mit ihm passieren? Wieso hatte die Herrin nicht schon früher eingegriffen, wenn sie gewusst hatte, wer er war?
Vier Soldaten führten Kei von Bord und knüpften weitere Seile an seine Fesseln.
„Los, setz dich in Bewegung!“, kommandierte eine Soldatin und stieß Kei in den Rücken. Er stolperte vorwärts, jeder der Soldaten hielt nun einen Strick in Händen, als wäre er ein Stück Vieh, das besonders gesichert werden musste. Ein Soldat ging voran, die anderen flankierten Kei und einer ging hinter ihm. Sein Blick schweifte umher. Gab es eine Möglichkeit zu entkommen?
„Vorwärts! Trödel nicht rum!“, befahl der Soldat vor ihm und ruckte am Seil. Kei wurde weiter gezerrt. Ein Karren mit vorgespanntem Pferd wartete bei den Toren. Kei musste hinten zwischen den Soldaten Platz nehmen, ein Tuch wurde ihm über die Augen gebunden und die Fahrt zu einem unbekannten Ort begann.
Kei fühlte sich elend. Er war beinahe erleichtert, dass er nichts sehen konnte, so brauchte er nicht den Blicken der Soldaten ausweichen, die zweifelsohne auf ihm ruhten.
Eine Zeit lang rumpelte das Fuhrwerk über ausgebaute gerade Straßen, doch nach einigen kurzen Stopps, bei denen Kei ahnen konnte, dass sie Grenzposten passiert hatten, wurde der Weg steiler. Der Pfad wand sich mal bergauf, mal bergab und wurden zunehmend holpriger. Zunächst vermutete Kei, dass er zur Burg gebracht werden würde, allerdings verwarf er diesen Gedanken schnell wieder, da sie dort aufgrund der Stufen nur zu Fuß oder zu Pferde hinaufgelangen konnten.
Plötzlich hielt das Fuhrwerk und ihm wurde das Tuch von den Augen genommen. Dunkle Felswände erhoben sich links und rechts von ihnen und bildeten eine steile Schlucht.
Wo sind wir hier?, fragte sich Kei in Gedanken, wir müssen so tief in den Bergen sein, dass nichts zu sehen ist außer dem schroffen Gestein.
Die Soldaten entzündeten Fackeln und führten ihren Gefangenen einen Pfad entlang. Er war so schmal, dass gerade mal ein Reiter ihn passieren konnte. Im Schein der Fackeln konnte Kei nur wenige Meter weit sehen. Er musste auf seine Schritte achten, um nicht über Kiesel und Schlaglöcher zu stolpern. Wo brachten sie ihn hin? Selbst die Soldaten schienen angespannt zu sein und keiner sagte ein Wort.
Mehr schlecht als recht folgten sie dem Weg bis zu einer Biegung, die auf einer Erhöhung lag. Dahinter weiteten sich die Felswände und als sie Kuppe und Biegung überwunden hatten, öffnete sich vor ihnen eine breite Schlucht von Westen nach Osten.
Kei runzelte die Stirn. Aus der Tiefe drang ein schwaches Leuchten, es setzte sich links und rechts fort, wie ein verborgener Fluss, der die Felswände glimmen ließ, bis es zwischen den Bergen verschwand. Das die Berge ab und zu Feuer spuckten, hatte Kei im Tempel gelernt. Aber konnte die Erde sich so tief und weit spalten, dass eine ganze Schlucht davon erleuchtet wurde?
Keis Blick wanderte zu einer steinernen Brücke, sie führte einige Meter unter ihnen über die Schlucht und schien wie aus dem Felsen gewachsen zu sein. Fackeln erhellten den Weg und endeten bei dem Plateau eines gewaltigen Berges auf der gegenüberliegenden Seite. Im schwachen Licht der Fackeln konnte Kei ein massiges Tor wahrnehmen, das in den Berg hineinführte. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als ihm Yukis Worte in den Sinn kamen. Dies musste der Ort sein, den der Yokai beschrieben hatte. Hier führte die Herrscherin ihre Experimente durch.
Schweiß trat Kei auf die Stirn. War das sein Schicksal? Ein Wesen, halb Mensch, halb Yokai? Seinem Bewusstsein beraubt oder in seinem eigenen Körper gefangen wie ein gelähmter Beobachter?
Seine Beine schienen schwächer geworden zu sein, als Kei auf die Brücke geführt wurde. Trotz seiner Angst reckte er den Hals, um einen Blick in die Schlucht zu werfen. Im trägen Dunst formten sich unzählige, in allen Farben glimmende Wirbel. Die Nebel krochen zwischen den Bergen dahin, bildeten flüchtige Formen und zerfielen in einem endlosen Kreislauf.
Kei runzelte die Stirn, trotz der Helligkeit des Stroms warfen sie keine Schatten. Was war das für eine merkwürdige Materie? Sie erinnerte ihn an etwas, doch das konnte unmöglich sein …
Die Soldaten ließen sich von dem Schauspiel nicht beeindrucken, sie würdigten die Lichter keines Blickes und schienen es eilig zu haben, das Plateau zu erreichen. Dort angekommen, blickte Kei ehrfürchtig an dem Tor hinauf. Es verschwand irgendwo über seinem Kopf in der Dunkelheit. Hatten wirklich Menschen diese Meisterleistung vollbracht? Es war kaum vorstellbar.
Mehrere Soldaten mit schwarzen Helmen, Rüstungen und grotesken Masken, die die untere Gesichtshälfte verdeckten, wachten vor dem Tor. Sie wirkten wie Oni mit Hörnern, grässlichen Fratzen und Fangzähnen. Im Fackelschein blitzten ihre dunklen Augen.
Kei hatte diese Rüstungen noch nie zuvor gesehen. Weder das schwarze Metall noch Masken dieser Art. Es musste eine Sondertruppe sein, die allein hier am Berg ihren Dienst ausübte. Vielleicht besondere Vertraute der Herrscherin? Anders konnte es nicht sein.
„Halt!“, befahl eine Soldatin mit stechender Stimme und trat vor die Truppe. „Wir übernehmen ab hier!“ Kei wurde weitergereicht und während sich die einen unter Verbeugungen zurückzogen, nahmen die anderen den Gefangenen in ihre Mitte.
Die Soldatin klopfte langsam an das Tor und aus dem Inneren hallte ein dumpfes Echo zurück. Sie hörten, wie ein Balken entfernt wurde, dann ertönte das Knarzen der Angeln und die Flügel des Tores öffneten sich Stück für Stück nach außen. Als die Bewegung endete, war gerade genug Platz, dass die Gruppe eintreten konnte. Kei sah zunächst nicht mehr als einen matten Schein und nachdem er eingetreten war, befand er sich in einem Tunnel, der in das Innere des Berges führte und von Fackeln erhellt wurde. Das Tor schloss sich hinter ihnen mit einem endgültig klingenden Laut und Kei hatte das Gefühl, der Berg habe ihn verschluckt. Sämtliche Geräusche waren verstummt, nur ihre Schritte und das Klirren der Waffen hallte von den Wänden wider. Die Luft roch feucht und nach verbrannten Fackelresten.
Unbehagen kroch über Keis Rücken. Der niedrige, schwarze Gang schien mitten in die Unterwelt hinabzuführen und die Düsternis sog mit jedem weiteren Schritt all seinen Mut und seine Zuversicht in sich auf. Beklemmung breitete sich in seiner Brust aus und das Blut pulsierte laut durch Keis Ohren. Was für Schrecken erwarteten ihn?
Nachdem sie einige Minuten, die sich wie Stunden angefühlt hatten, gegangen waren, wurde ein Licht am Ende des Tunnels sichtbar. Während sich der Gang vor Kei wieder weitete, erkannte er, dass sie sich einer großen Höhle näherten. War dies der Ort, an dem Yuki, Masao und Riona in die Körper der Jungen gezwungen worden waren? Kei schluckte hart. Welches Wesen würde wohl auf ihn warten?
Sie erreichten die Höhle und Kei konnte nicht anders, als sich staunend umzublicken. Zunächst fielen ihm die vielen Lampen auf, die in den Vorsprüngen entlang der Höhlenwände angebracht waren und von allen Seiten Licht verströmten. Auf den zweiten Blick entdeckte er eine schier unendliche Zahl an kleineren und größeren Figuren aus schwarzem Stein, die in den Nischen der Felswände saßen oder standen. Manche Figuren wirkten so, als seien sie mit dem Gestein verschmolzen oder daraus hervorgebrochen. Die Höhle war sehr hoch und endete viele Meter über ihren Köpfen. Sie war beinahe kreisförmig und hatte einen glatten, wahrscheinlich von Menschenhand abgetragenen Boden. Dieser war mit unzähligen, in den Grund geritzten Zeichen und Schriften übersät. In der Mitte der Höhle stand ein steinerner Sockel, der an eine klauenbesetzte Pranke erinnerte. Sie schien einst aus dem Boden gestoßen zu sein und war wie in der Bewegung erstarrt. Auf der ausgebreiteten Handfläche schimmerte eine weiße Statue – die Drachenstatue.
„Ja, sie war all die Zeit über hier …“, sagte eine Stimme unweit von Kei. Er drehte sich nach rechts und erblickte die Herrscherin, die im Schatten verborgen gewartet hatte. Kei vermutete, dass sie zu Pferde vorausgeritten war, nur um ihn hier zu empfangen.
Sie trat in die Halle hinaus, schritt gemächlich auf die Statue zu und umrundete das schaurige Podest. Dahinter blieb sie stehen, glitt mit den Fingern über den Kopf des Drachen und fragte: „Ist sie nicht wunderschön?“
Kei bemerkte, dass der Boden rund um den Sockel vollkommen schwarz verfärbt war, so als habe hier ein mächtiges Feuer gebrannt. Hatten sie auf diese Weise den Drachen gezwungen, in Erscheinung zu treten? Tausende Fragen sausten ihm durch den Kopf.
„Du hast die Fähigkeit, magische Kreaturen zu sehen und kannst sogar mit ihnen sprechen …“, sagte die Herrscherin und blickte ihn über die Statue hinweg eindringlich an. „Wer hätte gedacht, dass du es bist. Andererseits lag da schon immer etwas in deinen Augen …“ Sie schwieg und musterte die Statue, dann befahl sie: „Bringt ihn her!“
Die Soldaten schleppten Kei zu der Statue hinüber. Jetzt, da er vermutete, dass Kazuo hinter der Gestalt des Drachen steckte, tat es ihm weh, sein Ebenbild zu sehen und zu wissen, dass man ihn mit Feuer gepeinigt hatte, bis er in seiner Drachengestalt erschienen war. Welche Qualen hatte er ertragen müssen? Das erklärte auch, weshalb Kazuo so krank ausgesehen hatte und wahrscheinlich auch, weshalb er verschwunden war. Er war es gewesen, der ihn aus dem Fluss gerettet hatte. Doch so recht verstand Kei noch nicht, wie alles zusammenhing. Wieso verwandelte sich Kazuo in den Drachen? Weshalb hatte er nie davon erzählt? Kei erinnerte sich daran, wie Kazuo ihm von seinen Gedächtnislücken berichtet hatte. Phasen, an die er sich nicht erinnern konnte … War seine Verwandlung womöglich der Grund dafür? Suchte Kazuo deshalb nach Antworten? Oder hatte er ihm gegenüber all die Zeit verschwiegen, dass er in Wahrheit der Drache war? Vielleicht aus Angst, Kei könne sich vor ihm fürchten?
„Du hast mit dem Drachen gesprochen und er hat sich dir in Menschengestalt gezeigt“, fuhr die Herrin fort. „Ich will, dass du ihn rufst!“
„Niemals!“, entgegnete Kei augenblicklich.
„Wieso dachte ich mir, dass du so antworten würdest? Ich werde dir einige Tage Bedenkzeit geben. Bringt ihn in den Kerker!“
Kei warf sich in die Seile, aber vergebens. Die Soldaten hielten ihn in Zaum und zerrten ihn mit sich, so sehr er sich auch sträubte.
Das war es also! Sie wollten ihn als Werkzeug, als Stimme, die Kazuo befehligte. Sie konnten ihn beschwören, ihn zwingen, sich zu zeigen; lenken konnten sie ihn jedoch nicht, seine Kraft nicht nutzen.
Kei stolperte zwischen seinen Wächtern durch einen Gang, der auf der anderen Höhlenseite in den Berg führte. Er war höher und weniger bedrückend als der erste, dennoch war Kei mulmig zumute. Der Gedanke, in den Tiefen eines Gebirges gefangen zu sein, trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Hier würde ihn niemand suchen, geschweige denn finden.
Nur der Schein zweier Fackeln, die die Soldaten jetzt trugen, erhellte den Weg. Der Gang machte hier und da eine Biegung und ab und zu formten sich Abzweigungen aus den Schatten, der verging, sobald das Licht weiterzog. Bereits nach kurzer Zeit hatte Kei die Orientierung verloren.
Als sie sich dem vermutlichen Ende des Tunnels näherten, drang Licht zu ihnen hinein.
Ist das etwa das Ende des Berges? Kommen wir dort wieder nach draußen?, dachte Kei, aber dann begriff er, dass noch immer Nacht war. Mit jedem Schritt, den sie sich dem Schein näherten, wurde Kei unruhiger. Wirre Gedanken formten sich in seinem Kopf und er wurde immer zappeliger. Eine plötzliche Angst schnürte ihm die Luft ab, sein Puls schoss in die Höhe und er verspürte den Drang davonzulaufen. Er war nicht mehr Herr seines Verstandes und mit einem Mal wurde er von einer Welle an Gefühlen überrollt. Unzählige Stimmen schrien, weinten und echoten von den Wänden. Sie klagten und flehten vor Furcht, brüllten vor Zorn, wimmerten vor Verzweiflung und kreischten in Todesangst …
Kei taumelte, er krümmte sich unter Qualen und wollte sich die Ohren zuhalten. Woher kamen all diese Stimmen? Was war das für ein grässlicher Ort? Schweiß trat ihm auf die Stirn, er zitterte.
„Los, weiter!“, gebot einer der Soldaten, aber Keis Knie waren weich, er konnte keinen Schritt mehr tun.
„Mach schon!“ Jemand stieß ihn vorwärts, er stolperte zwischen den Soldaten aus dem Tunnel und nun standen sie vor einem gewaltigen Abgrund. Ringsherum verlief der Weg, doch Kei konnte seine Augen nicht von dem abwenden, was er in der Tiefe zu Gesicht bekam: Eine wogende Masse aus Leibern, mit verzerrten Gesichtern, grotesken Grimassen, weit aufgerissenen irren Augen, panisch rudernden Armen, Beinen und Klauen … Gestalten mit entstellten Körpern, zerlaufen, zerrissen, vor Angst verzerrt, die kaum noch an das erinnerten, was sie einst gewesen waren … Yokai.
Waren dies die verschollenen magischen Wesen, die nicht mehr in ihre Heimat zurückgekehrt waren? Es musste so sein … Ein grünlich leuchtendes Licht spannte sich über die gesamte Schlucht und hielt die Yokai darunter gefangen. Immer wieder erhoben sich Leiber aus dem Knäuel, versuchten, die Barriere zu durchbrechen und zuckten jaulend und schreiend zurück. Tränen stiegen in Keis Augen. Es war unerträglich, die Qual dieser Wesen zu sehen und zu spüren. Ihre Panik, ihr Irrsinn dröhnte durch die gesamte Höhle und vergiftete die Luft.
So grauenhaft die Aura sich auch anfühlte, der Glanz all der zusammengepferchten Wesen schillerte in den prächtigsten Farben, die Kei sich nicht hätte vorstellen können. Nun bestätigte sich zudem seine Ahnung, was der feine Dunst gewesen war, der unter der Brücke zwischen den Bergen glomm: Auren tausender Yokai. Was in aller Welt bezweckte die Herrscherin mit dieser Folter?
„Es scheint zu stimmen“, bemerkte eine Soldatin hinter Kei mit gedämpfter Stimme. „So wie er da hinunterschaut, könnte man meinen, es gäbe was zu sehen … Irgendwie unheimlich, oder? Mir läuft es immer kalt den Rücken hinab, wenn ich hier durch muss.“ Ein anderer Soldat brummelte etwas und es ging den Pfad entlang, der die Schlucht umrundete.
Keis Atem ging schwer, die Energie, die die Wesen verströmten war erdrückend. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde er eine Tonne wiegen und hätten ihn die Stricke nicht gehalten, wäre er vermutlich zusammengebrochen. Er wollte fort von hier. Hinaus, einfach nur weg! Er ertrug diese Masse an Gefühlen nicht, die ungefiltert auf ihn einströmte, sie raubte ihm den Verstand.
Endlich brachten die Soldaten ihn in eine Abzweigung und der Druck ließ nach. Noch immer zitterte Kei am ganzen Leib, bekam aber besser Luft und kam schneller voran. Völlig erschöpft und ausgelaugt trottete er weiter, bis die Soldaten in einem Gang stehenblieben, von dem links und rechts kleine Kammern abzweigten, welche mit Eisengittern versperrt waren. Die Fesseln wurden gelöst und Kei in eine der Zellen gestoßen. Es war feucht und muffig, aber er war zu erschöpft, um Widerstand zu leisten und blieb auf dem kalten Boden liegen. Die Soldaten versperrten die Tür und entfernten sich. Mit ihnen verschwand auch die einzige Lichtquelle und Kei fand sich in der tiefsten Finsternis, die er je erlebt hatte. Entkräftet zog er die Beine an. Trotz der Aufregungen klappten ihm die Augen zu und er fiel in einen unruhigen Schlaf.
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