Leseprobe – Im Reich der Herrscherin

Kapitel 1

Der Wind blies Kei die Haare ins Gesicht, während Minamiseito in der Ferne verblasste. Der Geruch des Wassers lag in der Luft und die Wellen tosten gegen die Bordwand des Handelsschiffes. Er hatte Haruka, Kazuo und Shous Familie schweren Herzens zurücklassen müssen. Aber in Yamauka wartete Satoshi auf seine Hilfe bei der Suche nach der Statue. Ganz allein hatte sich sein Freund in das Reich der mächtigen Herrscherin begeben und Kei wusste nicht, wie es um ihn stand. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und wandte sich dem Mann zu, der sich ihm kurz zuvor freundschaftlich vorgestellt hatte.
„Ich heiße Kei“, antwortete der junge Wächter. „Schön dich kennenzulernen, Yoshi.“
Dank Yoshis gewinnender Art verflog Keis trübsinnige Laune nach kurzer Zeit und er fühlte sich auf dem großen Schiff nicht mehr so allein wie zuvor. Der Seemann stellte ihm die Mannschaft vor und erzählte von seinen Erlebnissen auf dem Fluss. Das Wetter ließ jedoch zu Wünschen übrig. Aus dem Norden kam ein starker Wind auf und trieb von den weit entfernten Bergen dicke Wolken über den Himmel. Kei sah dabei zu, wie sie sich zu grauen Ungetümen auftürmten und alles verdunkelten, als wolle es Nacht werden. Das Schiff kam nur langsam voran, ein Teil der Mannschaft setzte sich an die Ruder und versuchte den Kurs zu halten. Sie hatten vielleicht die Hälfte geschafft, als immer größere Wellen, das Schiff packten und es beängstigend schwanken ließen.
„Da kommt ein Sturm!“, rief Yoshi Kei zu, der alles mit besorgter Miene beobachtete.
„Schaffen wir die Überfahrt?“, rief Kei, um gegen den Wind anzukommen. Inzwischen peitschte Regen über das Deck.
„Vermutlich, aber wir müssen die Segel einholen und alle ans Ruder“, erklärte Yoshi, „sonst treibt uns der Sturm zu weit ab.“
Die Besatzung kletterte in die Takelage, um die Segel zu sichern. Kei beneidete sie nicht, der Sturm riss an ihnen und den Segeln, durch den Regen war kaum noch etwas zu sehen und das Schiff tanzte bedrohlich auf den schäumenden Wellen. Einmal mehr wurde ihm bewusst, wie gewaltig der Fluss war. Vor ihnen, hinter ihnen, überall war Wasser …
„Ist es normal, dass das Wetter so schnell umschlägt?“, rief Kei Yoshi zu, der gerade ein dickes Tau verknotete.
„Ab und zu kommt das vor, aber meistens kündigen sich Schlecht­wetterfronten länger an. Auf das Wetter ist zurzeit kein Verlass mehr. Hilf mir mal!“ Kei half Yoshi, ein Seil zu lösen, das eines der Segel festhielt. Eine Orkanböe fegte heran und warf das Schiff bedenklich zur Seite. Schreie gellten und Menschen, Gepäck und Waren rutschten über das Deck. Einige Kisten lösten sich aus ihrer Verankerung. Kei und Yoshi klammerten sich am Tau fest, Rufe erfüllten die Luft. Plötzlich bemerkte Kei einen kleinen Jungen, der den Halt verloren hatte und zur Seite geschleudert wurde. Entsetzt beobachtete er, wie das Kind über die Reling flog und sich im letzten Moment an ein Seil klammerte. Das Schiff richtete sich wieder auf, Kei ließ das Tau los und rannte über die glitschigen Planken zu dem Jungen hinüber.
„Was machst du da? Das ist gefährlich! Halt dich irgendwo fest!“, schrie Yoshi, der das Kind noch nicht bemerkt hatte. Das Schiff kippte leicht in die entgegengesetzte Richtung.
„Der Junge!“, schrie Kei und stürzte zu dem schreienden Kind, das nun wieder etwas Halt gefunden hatte.
„Ein Junge?“, rief Yoshi, erst jetzt bemerkte er, was passiert war. „Kind über Bord!“, rief er und lief gestikulierend hinter Kei her. Letzterer hatte den Jungen erreicht, doch die nächste Sturmböe ließ das Schiff sich wieder gefährlich neigen und der Junge verlor mit seinen Füßen auf dem nassen Holz den Halt.
„Ich helf’ dir!“, schrie Kei ihm zu und blickte in das tränenüberströmte Gesicht des Kindes. Es hatte Todesangst und klammerte sich mit all seiner Kraft fest. Während das Schiff sich wieder aufrichtete, beugte Kei sich zu ihm rüber und packte sein Handgelenk. „Lass los, ich zieh’ dich rauf!“, sagte er, der Junge war allerdings zu verängstigt seinen Griff zu lockern und schüttelte den Kopf. „Vertrau mir!“, versicherte Kei. Plötzlich sah Kei etwas im Wasser und wich leicht zurück. Grünliche katzenschädelähnliche Köpfe tauchten rund um das Boot auf. Die fischschuppigen Schnauzen mit Schnurrhaaren entblößten spitze Zähne, flossenartige Ohren ragten aus dem Fluss und flammende Augen glommen zu ihnen hinauf. Als das Schiff sich senkte, schnellten schuppige Arme mit krallenbesetzten Klauen aus dem Wasser und haschten wie eine ausgehungerte Meute nach den zappelnden Beinen des Kindes.
Yoshi tauchte an Keis Seite auf; da er um einiges länger war, langte er hinunter und packte den Jungen am Hosenbund.
„Ich habe ihn!“, rief er und zog ihn mit Keis Hilfe hinauf. Letzterer starrte zurück in das Wasser, die Wesen fauchten und entblößten zornig ihre scharfen Zähne. „Achtung!“, schrie Yoshi, einige Kisten hatten sich gelöst und stürzten auf sie hinunter. Er brachte sich und den Jungen mit einem Satz in Sicherheit, aber Kei konnte nicht mehr ausweichen, die Kisten begruben ihn, rissen ihn mit sich und schleuderten ihn über Bord.
„Mann über Bord!“, gellte Yoshis Stimme durch den Sturm.
Für einen Moment wusste Kei nicht wo oben und unten war. Das Tosen des Sturmes klang entfernter, dumpfer, Luftblasen rauschten an ihm vorbei und er wurde wie ein Spielball hin- und hergeworfen. Er ruderte mit den Armen und trieb der Wasseroberfläche entgegen, da packten ihn plötzlich mehrere kleine Pranken. Sie klammerten sich an seine Arme und Beine und zogen ihn mit schier unmenschlicher Kraft zurück in die Tiefe. Kei erkannte schlanke wendige Körper mit Flossen und getigerten Maserungen. Panisch versuchte er sich loszureißen, trat und hieb um sich, doch je mehr er sich wehrte, desto schneller ging ihm die Luft aus. Er musste atmen! Nach einigen Mühen gelang es ihm, sich zu befreien und er schwamm mit ausladenden Zügen hinauf. Keuchend brach er durch die Wasseroberfläche und rang hustend nach Luft. Er versuchte das Wasser aus seinen Augen zu wischen und sich zu orientieren. Wellen rollten über ihn hinweg, sein Puls raste und die Kälte ließ ihn schlottern.
Das Schiff tanzte wie ein kleines Spielzeugboot ganz in seiner Nähe auf dem Fluss. Erleichtert und ängstlich zugleich schrie er um Hilfe und ruderte mit einem Arm durch die Luft. Ein Seil kam geflogen, verfehlte ihn jedoch knapp. Kei schwamm darauf zu und bemerkte mit Grauen, dass die Wasseryokai wieder nach ihm grapschten. Ihre kalten Pranken haschten nach seinen Armen und Beinen, krallten sich in seine Kleidung und zerrten ihn hinunter. Das Wasser schlug immer wieder über seinem Kopf zusammen und raubte ihm die Sicht. Kei kämpfte vergeblich gegen die Überzahl der Pranken, die von allen Seiten an ihm rissen. Es wurde immer mühsamer, seinen Kopf über Wasser zu halten und sich gleichzeitig gegen die Wasserdämonen zu wehren. Seine Kräfte verließen ihn, er fror und seine Lunge schmerzte. Die schuppigen Pratzen schlangen sich wie Seegras um seinen Körper und zogen ihn in die Tiefe des trüben, aufgewühlten Flusses.
Keis Arme fühlten sich taub an, sein Kopf pochte. War das sein Ende? Nein, das durfte nicht sein! Es gab noch so viele Dinge, die er zu tun hatte. So viele Menschen warteten auf ihn. Er durfte sie nicht enttäuschen. Keis Lungen stachen, er würgte und unterdrückte nur mit Mühe das Verlangen, zu atmen. Ein Schwall Luftblasen entrann seiner Kehle, während ein ganzer Schwarm Yokai an ihm zerrte und rupfte. Ein schummriges Licht in der Ferne ließ ihn ahnen, wie tief er bereits gesunken war, und die Wasserdämonen zogen ihn immer noch weiter hinab.
Mit einem Mal kam Unruhe zwischen den Kreaturen auf, sie ließen von Kei ab und hielten wachsam inne. Plötzlich sträubten sich ihre Schuppen, sie stoben in heller Aufregung auseinander und verschwanden in der Schwärze des Flusses.
Kei hatte keine Zeit sich zu wundern, er brauchte Luft. Sofort! Seine Brust stach, sein Herz raste, als würde es jeden Moment zerspringen. Ihm wurde schwindelig und das Verlangen zu atmen, war überwältigend. Erleichtert, aber viel zu langsam, schwamm er der Oberfläche entgegen. Es fühlte sich an, als wären Gewichte an seinen Gliedern befestigt.
Eine Strömung verlieh ihm mit einem Mal Auftrieb. Etwas Warmes streifte seine Füße, tauchte unter ihm hinweg und anhand des Sogs, der ihn ergriff, konnte er ahnen, dass es etwas sehr Großes gewesen sein musste. Erneut von Angst gepackt, holte Kei weit aus, versuchte sich schneller hochzukämpfen, da erfasste ihn erneut eine Aufwärtsströmung und trug ihn empor. Im zunehmenden Licht sah Kei einen gewaltigen, weißen Schlangenkörper, der sich mühelos durch das Wasser schlängelte, blitzschnell an ihm vorbeiglitt und ihn mit dem Sog seiner Masse hinauftrug. Kaum ragte Keis Kopf wieder über Wasser, hustete und prustete er wie verrückt, rang nach Luft und kämpfte gegen die Wellen. Der Sturm toste mit einem Mal laut in seinen Ohren, das Schiff war zu einem dunklen Fleck zusammengeschrumpft und der Regen ließ die Oberfläche schäumen. Kei fühlte sich wie ein Baby, hilflos zappelnd und strampelnd, den Naturgewalten ausgeliefert. Er würde nie das Ufer erreichen, es war viel zu weit weg. Er konnte nicht mehr, hatte keine Kraft.
Regenschleier fegten über den brodelnden Fluss. Wie aus einer Quelle wallte das Wasser vor Kei auf und wuchs in die Höhe. Weiße Gischt sprudelte in alle Richtungen und ein dunkler Schatten – das Un­getüm aus der Tiefe – brach aus dem Fluss hervor. Kei starrte mit aufgerissenen Augen zu dem Wesen hinauf, er glaubte kaum, was er sah und doch … es gab keinen Zweifel. Vor ihm erhob sich keine Schlange, sondern der Drache majestätisch aus dem Fluss und blickte auf ihn hinunter. Wasser strömte aus der tiefschwarzen Mähne, er hatte dunkle Augen und ein schlankes Geweih, das an das eines jungen Rehbocks erinnerte, jedoch um einiges größer war. Seine Schuppen schimmerten wie weißes Perlmutt.
Es war der Flussgott, der wahrhaftige und als Statue verewigte Drache, dessen Existenz längst zu einem Mythos verkommen war. Trotz seiner imposanten Größe verspürte Kei keine Angst mehr. Der Drache schien ihn mit wachen Augen zu mustern, neigte seinen Hals so weit vor, dass Kei sich an seiner Mähne festhalten und sich auf seinen Rücken hinaufziehen konnte. Ungeachtet seiner Erschöpfung packte ihn ein euphorisches Gefühl. Die Schuppen des Drachen waren samtig und warm, seine Mähne weich wie nasse Seide. Während der Drache ihn durch den tosenden Fluss trug, glitten Keis Finger immer wieder über die glatten Schuppen und die Mähne des magischen Geschöpfs.
„Du bist es wirklich, oder?“, fragte er fassungslos. „Der Flussgott O-Ryuu?“ Der Drache gab keine Antwort, Kei wusste nicht mal, ob er ihn verstand oder antworten konnte, aber es spielte keine Rolle. Er war sich sicher, er spürte es einfach. Unzählige Gedanken rasten durch seinen Kopf und es fiel ihm schwer, die Situation recht zu begreifen. Gerade noch hatte er mit dem Tode gerungen, nun ritt er auf dem mächtigsten Wesen, das seiner Welt bekannt war.
Bereits nach kürzester Zeit erreichten sie das andere Ufer, doch sie waren ein gutes Stück flussabwärts getrieben und Kei befand sich auf dem Landstrich, der nach Kasumitani führte. Das Schiff war weit und breit nicht zu sehen. Hatten sie umkehren müssen? Dennoch war er dem Drachen unendlich dankbar.
Am Ufer glitt er von seinem Rücken und blickte zu ihm hinauf.
„Danke“, sagte er, „du hast mir das Leben gerettet! Ohne dich hätten mich diese Kreaturen erledigt oder ich wäre elendig ertrunken. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll … Ich stehe ewig in deiner Schuld!“ Der Drache blinzelte langsam und neigte seinen gewaltigen Kopf. Er war Kei inzwischen so nahe, dass dieser nur den Arm auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren. Dampf stieg vom Körper des Drachen auf, was Kei überraschte.
„Darf ich …?“, fragte er und hob die Hand langsam in die Höhe. Da der Drache sich nicht bewegte, streckte er die Finger nach ihm aus und berührte vorsichtig die schlanke Schnauze. Sie war überraschend warm. Natürlich hatte Kei nicht die geringste Ahnung von Drachen. Es war unglaublich, dass er einem wahrhaftigen Exemplar gegenüberstand und ihn berührte, allerdings hatte er angenommen, dass ein Wasserdrache kalt wie ein Fisch sein müsste. Er streichelte dem Drachen über die Schnauze und es machte ihn ohne triftigen Grund unglaublich glücklich. Die Schuppen, welche am Schädel so fein waren, dass man sie kaum spürte, fühlten sich nicht wie die einer Schlange oder eines Fisches an, sondern eher wie weiches Wildleder. Kei hob seine zweite Hand, fuhr mit beiden in die Mähne und über eines der Geweihe. Es war von der Beschaffenheit vergleichbar mit dem eines Hirsches, leicht knubbelig und glatt zugleich, dennoch merkwürdig befriedigend. Er schmiegte sich an den gewaltigen Kopf und schloss die Augen. Der Sturm schien an Lautstärke zu verlieren und weder Wind noch Regen schienen Kei in diesem Moment etwas anhaben zu können. Die Wärme des Drachen umhüllte ihn und ließ die Welt fern und unwichtig erscheinen.
Obwohl der Drache bis dahin stillgehalten hatte, ruckte sein Kopf plötzlich nach oben und der Moment platze wie eine Seifenblase. Die Lautstärke des Unwetters traf Kei wie eine Wand. Er stolperte zurück und sah mit aufgerissenen Augen zum Drachen hinauf. War er zu weit gegangen? Der Drache schüttelte seinen Kopf, als wolle er etwas Lästiges loswerden. Sein Maul klappte auf, wie bei einem hechelnden Hund und er lauschte auf etwas, was Kei nicht hören konnte. Das mächtige Geschöpf stieß ein wütendes Brüllen aus, das Kei durch und durch ging und ihn beinahe von den Füßen riss. Der Drache warf sich zurück und versank mit lautem Platschen und Zischen im schäumend brodelnden Fluss.
Verdattert blickte Kei auf die Stelle, wo der Drache untergetaucht war, doch dieser blieb verschwunden. Erst jetzt bemerkte er, wie erschöpft und durchgefroren er war. Er schlotterte wie Espenlaub und hatte nichts bei sich, bis auf das, was er am Leibe trug. Wie ein Blitz durchfuhr ihn ein Gedanke, sein Gepäck war an Bord geblieben. So auch die Schwerter von Aiyumi und ihm. Sie durften nicht verloren sein! Sie bedeuteten ihm zu viel. Aiyumis Schwert war alles, was er noch von ihr hatte … Sie hatte es bis zuletzt in der Hand gehalten.
Kei bemerkte, dass er flach und viel zu schnell atmete, er konnte keinen klaren Gedanken fassen und seine Hände suchten hilflos nach Halt. Als er sich dessen bewusst wurde, holte er ruhig Luft, zählte bis drei und schloss die Augen. Eines nach dem anderen. Zuerst musste er raus aus den nassen Klamotten und brauchte ein Dach über dem Kopf, solang der Sturm anhielt.
Die innere Unruhe hielt noch etwas an, als er sich in Richtung Kasumitani aufmachte. Bestimmt würden die Schiffsleute sein Gepäck bergen, oder nicht? Sie würden sicherlich annehmen, dass er im Fluss ertrunken war und Shou und seine Familie informieren. Dabei würden sie sein Gepäck an die Familie aushändigen. Bestimmt würden sie das tun … Kei hoffte inständig, dass die Besatzung aus ehrenvollen Mitgliedern bestand und sein Hab und Gut nicht untereinander aufteilte oder verkaufte. Dieser Yoshi schien ja ein guter Mann zu sein.
Der Sturm wollte sich partout nicht beruhigen, noch immer fegten Kei Böen entgegen und er musste sich regelrecht in sie hineinwerfen, um voranzukommen. Stück für Stück kämpfte er sich näher an Kasumitani heran. Wieso hatte der Drache ihn gerettet? Weshalb war er aufgetaucht? Kei konnte noch immer kaum glauben, dass er dem Drachen begegnet war, dass er wahrhaftig existierte. Es musste bedeuten, dass die Legende der Statue der Wirklichkeit entsprach. Die Statue beschwor den Drachen und kontrollierte ihn. Hatte ihm jemand den Drachen geschickt, um ihn zu retten? Aber weshalb? Das ergab alles keinen Sinn …
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte Kei Kasumitani. Vor ihm tauchte ein Palisadenzaun auf, der zwar die Häuser der kleinen Stadt verdeckte, jedoch nicht das Dach des Tempels im Zentrum. Als Einlass diente ein einfaches Tor, es war verschlossen und Kei musste klopfen. Er bibberte und zog die Arme fest um seine Brust, während er wartete. Endlich öffnete sich eine kleine Luke und das Gesicht einer Frau tauchte dahinter auf. Ihre Augen waren bereits von Falten umgeben, aber ihre Stimme klang fest und kräftig.
„Ja?“, fragte sie misstrauisch und spähte hinaus. Kei konnte die Skepsis der Frau verstehen; welcher Fremde verirrte sich schon hierher und dann noch ohne Schiff und Begleitung?
„Ich bitte um Einlass“, sagte Kei mit klappernden Zähnen. „Ich war an Bord des Handelsschiffes, das heute nach Yamauka aufgebrochen ist. Wir gerieten in den Sturm und ich ging über Bord.“
„Über Bord?“, fragte die Frau unverhohlen zweifelnd. Immerhin war ihre Neugierde groß genug, dass sie das Tor öffnete und Kei genauer musterte. Ihr Blick wanderte an seiner durchnässten Gestalt hinunter und hinauf. „Ich weiß, dass heute ̒n Schiff von Minamiseito hätte aufbrechen sollen“, sagte sie schroff, „aber wenn du über Bord gegangen bist, wie haste es bis hierher geschafft? Heute is’ noch kein Schiff in Sichtweite gekommen. Der Sturm is’ zu heftig …“
Kei beschloss auf eine Notlüge auszuweichen, die Geschichte vom Drachen hätte sie ihm sowieso nicht geglaubt. „Einige Kisten gingen mit mir über Bord. Ich konnte mich an einer festhalten und schaffte es ans Ufer.“ Selbst in seinen Ohren klang die Erklärung nicht sehr glaubhaft, doch die Frau kaufte sie ihm offenbar ab.
„Na schön“, brummelte sie, trat beiseite und ließ ihn hinein.
Dankbar drückte er sich an ihr vorbei. „Gibt es hier ein Gasthaus oder eine Herberge in der Nähe?“, fragte er schlotternd.
„Nee, aber die Mönche im Tempel nehmen dich sicher auf“, antwortete sie auf ihre schnodderige Art. „Immer die Straße rauf, kannst’e gar nicht verfehlen.“
„Danke!“ Er machte sich auf den Weg durch enge, leergefegte Straßen. Kein Mensch war während des Sturms draußen. Durch die dicken Regenschwaden sah Kei ärmliche kleine Holzhäuser. Kaum vorstellbar, dass hier einst die mächtige Hauptstadt Kasu­miyako existiert haben sollte. Vom Glanz der Vergangenheit war nichts mehr zu sehen. Mit der Aussicht auf trockene Kleidung und einem Dach über dem Kopf eilte Kei die Straßen entlang; es dauerte keine zehn Minuten und er hatte den alten Tempel erreicht. Ohne recht zu wissen, wo er sich melden sollte, beschloss er kurzerhand einzutreten. Die Tore waren nicht verschlossen und eine Wolke verbrannter Essenz kam ihm entgegen. Sofort tauchten Erinnerungen an seinen Heimattempel auf und er fühlte sich ein bisschen wohler.
„Hallo? Entschuldigung, ist jemand hier?“, rief Kei bibbernd.
Im Inneren des Tempels war es dämmerig, lediglich einige Lampen gaben ein spärliches Licht ab. Allein die Tatsache, nicht mehr dem Regen und Wind ausgesetzt zu sein, war eine Wohltat, besonders warm war es allerdings nicht. Kei ließ den Blick flüchtig durch den Raum wandern, über dicke Stützpfeiler und das Podest mit dem Schutzpatron – einem Drachen. Kei zuckte leicht zusammen, als er die Statue erblickte. Er trat näher heran, beugte sich vor und musterte die Schnitzerei genau. Sie war sehr detailliert und glich dem Drachen, den er zuvor in leibhaftiger Gestalt erblickt hatte, ziemlich genau. Allerdings fehlte das Geweih.
Ein leises Räuspern erklang neben ihm und Kei fuhr erschrocken herum. Ein alter Mönch, der selbst Watanabe in Jahren in den Schatten stellte, war lautlos an ihn herangetreten.
„Guten Tag“, sagte der Mönch mit einer dünnen Stimme, die den Eindruck seines Alters noch verstärkte.
„Guten Tag“, antwortete Kei, dem es angesichts der Dunkelheit draußen und drinnen vorkam, als müsse inzwischen mindestens Abend sein. „Bitte verzeiht, dass ich hier so einfach hereingeplatzt bin … Ich benötige dringend eine Unterkunft. Eine Frau am Tor verwies mich hierher … Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen?“ Kei bibberte so sehr, dass er kaum sprechen konnte, die Kälte und Nässe war ihm inzwischen in die Glieder gekrochen.
Der alte Mönch musterte Kei kurz und nickte. „Natürlich seid Ihr uns willkommen, junger Mann. Bitte folgt mir.“ Er ging voran und führte Kei in den hinteren Teil des Tempels. Es gab winzige Kammern mit kargen Lagern. Einige der Kammern waren geöffnet und Kei sah hier und da Mönche verschiedenen Alters, doch ihre Gemeinschaft mochte aus nicht mehr als zehn Personen bestehen, wenn überhaupt. Vor einer leeren Kammer blieb der Mönch stehen.
„Hier könnt Ihr Euch ausruhen, ich bringe Euch warme Kleidung zum Anziehen.“
Kei nickte dankbar und betrat den Raum. Sein Blick schweifte über kahle Wände, auf dem Holzboden lagen dünne Reisstroh­matten, die mit zusätzlichem Stroh und Decken zu einem Schlaflager aufgepolstert worden waren und die Hälfte des Raumes ausfüllten. Platz für weitere Gegenstände gab es nicht.
Eine kurze Zeit später kam der Mönch zurück, reichte Kei die frische Kleidung und fragte: „Soll ich Eure nassen Sachen zum Trocknen aufhängen?“
„Das wäre sehr nett“, bestätigte Kei und schälte sich aus seinen Kleidern, die an ihm klebten wie eine zweite Haut. Er überreichte sie dem Mönch, welcher erneut verschwand. Nachdem Kei sich die trockenen Sachen übergezogen hatte, fühlte er sich zwar bereits besser, aber ihm war noch immer viel zu kalt und er zitterte stark. Er nahm eine der Decken und wickelte sie sich eng um den Körper. Einige Zeit später erschien der Mönch abermals, diesmal hatte er eine Schüssel mit heiß dampfender Suppe und eine Tasse mit heißem Tee dabei.
„Bitte esst“, forderte er Kei auf, „Ihr müsst Euch aufwärmen.“ Kei nahm die Schüssel dankbar an und löffelte sie vorsichtig. Es tat ausgesprochen gut, sich die Hände daran aufzuwärmen und die Suppe von innen wirken zu lassen.
„Ich komme später wieder, um nach Euch zu sehen. Ruht Euch solang aus“, sagte der Mönch. Er überließ Kei die Laterne und ging.
Kei verspeiste die Suppe, machte es sich auf dem Schlaflager bequem und behielt den heißen Tee lange in den Händen. Nach und nach wurde ihm wärmer; er war unsagbar müde und nachdem er den Tee ebenfalls geleert hatte, schlief er ein.
Er wusste nicht, wie lang er geschlafen hatte, doch als er erwachte, war ihm heiß und er hatte Kopfschmerzen.
„Ich befürchte, Ihr habt Euch ein Fieber zugezogen …“ Der alte Mönch saß neben ihm am Boden, auf seinem Schoß lag eine geöffnete Schriftrolle. Ob er dort schon länger gesessen und gewacht hatte? Keis Schädel dröhnte, er war schlapp und seine Nase verschnupft. Mehrere alte Jacken waren über ihm ausgebreitet worden und hielten ihn warm.
„Wie lang habe ich geschlafen?“, fragte er matt.
„Es ist später Abend am Tag Eurer Ankunft. Habt Ihr Hunger?“
Kei schüttelte den Kopf. „Nein danke … bitte macht Euch keine Umstände. Sicher ist es bald vorbei.“
„Macht Euch darüber keine Gedanken“, sagte der alte Mönch vertraulich. „Am besten schlaft Ihr erst mal.“ Kei nickte, er war noch immer sehr müde und seine Augen schlossen sich von ganz allein.
Es verging beinahe eine Woche, bis Kei sich von dem Fieber erholte. Der alte Mönch versorgte ihn in dieser Zeit mit Suppe und Tee, kümmerte sich um sein Wohlergehen und stellte keinerlei Fragen. Als die Lebensgeister in Keis Körper zurückkehrten, begannen seine Gedanken wieder zu kreisen. Haruka tobte sicherlich vor Zorn. Dann fiel ihm jedoch ein, dass sie womöglich glaubte, er sei bei dem Sturm im Fluss ertrunken … Dieser Gedanke war noch schlimmer als der an eine wütende Haruka. Er musste sie unbedingt informieren. Aber wo steckte sie jetzt wohl? Noch in Minamiseito oder schon in Yamauka? Und wie ging es Satoshi inzwischen? Hatte er sich mit Haruka in Verbindung setzen können? Und hatte er vielleicht schon etwas über die Statue und die Vermissten herausgefunden?
Von dem alten Mönch erfuhr Kei, dass der Schiffsverkehr aufgrund des schlechten Wetters ausgesetzt worden war. Seit der misslungenen Überfahrt hatte das schlechte Wetter angehalten und die Fahrten zum Erliegen gebracht. Das bedeutete, Haruka war noch immer in Minamiseito. Sie und Satoshi mussten erfahren, dass es ihm gut ging. Je früher er aufbrach, desto besser.
Als der alte Mönch ihm Tee brachte, erklärte Kei, dass er zeitnah weiterreisen müsse.
„Schon so bald?“, fragte der alte Mann. „Fühlt Ihr Euch dazu in der Lage? Ihr wart einige Tage krank. Ein Fieber ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen …“ Er sah Kei besorgt an. „Bleibt lieber noch ein, zwei Tage, bis Ihr völlig gesund seid …“
„Ich bin Euch unendlich dankbar! Aber ich fühle mich kräftig genug, um meine Reise fortzusetzen“, erwiderte Kei. Es war das zweite Mal in kürzester Zeit, dass sein Leben an einem seidenen Faden gehangen hatte und dessen war er sich bewusst. „Wie kann ich Euch nur danken und für all die Umstände entschädigen?“
„Entschädigen?“, fragte der Alte amüsiert. „Es ist meine Pflicht als gläubiger Mönch und Mensch, einen Hilfebedürftigen zu pflegen … Weder ich noch einer meiner Mönche erwartet eine Gegenleistung.“
„Aber …“, setzte Kei an.
„Nichts da“, unterbrach ihn der Mönch freundlich, aber bestimmt. „Wenn Ihr etwas tun möchtet, so erzählt mir, bevor Ihr geht, Eure Geschichte. Wer seid Ihr? Ich habe erfahren, dass Ihr über Bord eines Handelsschiffes gegangen seid und auf Kisten zu uns hinüber getrieben wurdet. Ist das wahr?“
Kei senkte ausweichend den Blick, er wollte den Mönch nicht anschwindeln, dennoch beschloss er, bei der Notlüge zu bleiben. Selbst ein gläubiger alter Mönch würde ihm die Begegnung mit dem Drachen kaum abnehmen, oder?
„Es stimmt. Ich war an Bord des Handelsschiffes, das nach Yamauka segeln sollte. Es stürmte und nach ungefähr der Hälfte der Strecke war der Sturm so stark, dass das Schiff zu kentern drohte. Es wurde von heftigen Böen erfasst, dass Passagiere, Besatzung und Fracht ins Rutschen gerieten. Ein kleiner Junge ging beinahe über Bord. Ich half ihm, stürzte dabei aber selbst in den Fluss. Mit mir fielen einige Kisten ins Wasser. Ich konnte mich an einer festklammern und gelangte ein Stück flussabwärts ans Ufer.“
„Mhm hmh“, machte der alte Mönch und rieb sich das Kinn. „Was für ein Abenteuer! Nur die Götter können Euch in diesem Sturm unbeschadet zu uns geführt haben, wenn nicht gar der Flussdrache persönlich. Die Götter meinen es gut mit Euch.“
Kei lächelte leicht und blickte zur Seite. „Tja, wer weiß …“
Sie schwiegen einen kurzen Moment, dann wandte Kei sich erneut an den alten Mann. „Werter Mönch, ich habe Eure Gast­freundschaft lange genug beansprucht. Ich muss weiter. Kann ich irgendwie über den Nebenfluss nach Yamauka kommen?“
Der Alte runzelte die Stirn und dachte nach. „Bei dem Wetter könnte es schwierig werden, jemanden zu finden, der auf den Suikawa hinausfährt, doch vielleicht habt Ihr Glück. Einige Fischer scheuen die Überfahrt auch bei schlechtem Wetter nicht, da der Suikawa viel schmaler als der große Hauptstrom ist. Am besten fragt Ihr die Fischer, die am Westufer leben. Ich gebe Euch ein paar Münzen mit, dann werden sie schon nicht ablehnen.“
Kei griff die Hände des Mönches. „Ich danke Euch! Ich weiß zwar nicht, wie ich Eure Güte jemals begleichen soll, aber ich werde es nicht vergessen. Irgendwann kehre ich zurück und revanchiere mich für alles, was Ihr für mich getan habt.“
„Das braucht Ihr wirklich nicht, schließt uns in Eure Gebete ein, das ist uns Dank genug! Wenn Ihr uns wieder besuchen kommt, würde ich mich sehr freuen.“
Kei blieb noch einige Stunden, in denen die Mönche ihm Proviant und kleine Geschenke überreichten. Er erhielt ein Armband aus Holzperlen, Kleidung und genug Lebensmittel und Münzen, dass er einige Tage auskommen würde. Bei seinem Abschied versammelte sich die kleine Gemeinde und wünschte ihm für seine Weiterreise alles Gute.
„Habt vielen, vielen Dank!“, sagte Kei und er meinte es von ganzem Herzen. „Ich werde Euch in meine Gebete einschließen und nie vergessen, was Ihr für mich getan habt.“ Er verneigte sich tief.
„Bevor Ihr geht“, sagte der alte Mönch, „wie lautet Euer Name?“
Kei richtete sich auf und sah den alten Mann lächelnd an. Es gab keinen Grund, ihn zu belügen und so antwortete er wahrheitsgemäß: „Kei. Ich bin Kei Kiriya.“
„Kei Kiriya“, wiederholte der Mönch nickend, „habt eine gute Reise, junger Freund!“
Als Kei aufbrach, war es früher Nachmittag geworden. Kalte Winde zogen aus den Bergen über die Stadt, aber wenigstens regnete es nicht. Kei sah sich das erste Mal in der Stadt um, während sein Weg ihn zum westlichen Stadtgebiet führte. Einfache Holzhäuser mit Reetdächern dominierten das Bild, es gab kleine Gärten, die als Ackerflächen dienten und sanft ansteigende Bergausläufer im Norden. Er beobachtete eine größere Gruppe Menschen an den Hängen, auf denen weitere Felder angelegt worden waren. Offenbar hatte der Regen das Erdreich so aufgeweicht, dass es in schlammigen Lawinen in Richtung der Häuser niedergegangen war. Bauern und Anwohner gleichermaßen versuchten den Schaden wieder zu beheben. Rufe schallten zwischen den Häusern und Feldern hin und her, während die Aufräumarbeiten vorangingen.
Plötzlich krachte es irgendwo zwischen den Straßen. Kei fuhr erschrocken zusammen und sah sich verdattert um. Schreie wurden in der Ferne laut. Was war passiert? Vielleicht hatten die Erdlawinen einige Häuser beschädigt? Allerdings kam der Lärm von irgendwo weiter vorn. Kei reckte den Hals, schaute hier und da in die Straßen, doch obwohl die Schreie nicht verstummten, konnte er den Grund nicht ausmachen. Allerdings wurde ihm klar, dass der Lärm vom Westufer herrührte.
Kei überlegte, dass der Fluss über die Ufer getreten sein könnte. Die anhaltenden Regenfälle und Sturmböen der vergangenen Tage hatten die Flüsse sicherlich aufgewühlt und gerade hier trafen der große Strom und der Suikawa aufeinander. Die Häuser dort waren sicherlich in Mitleidenschaft gezogen worden, wenn sie ähnlich nah am Wasser erbaut worden waren wie der Rest des Dorfes.
Inzwischen hatte Kei den westlichen Rand der Stadt beinahe erreicht, als ihm mehrere flüchtende Menschen entgegenkamen. Ihre Gesichter waren angstverzerrt, einige schrien. Eine Frau blutete an der Stirn. Ohne Kei zu beachten, stürmten sie an ihm vorbei. Es musste tatsächlich ein Unglück gegeben haben. Wahrscheinlich war ein Haus eingestürzt und hatte die Bewohner unter sich begraben. Kei beschloss, den Menschen zu helfen. Immerhin hatten sie ihn bei sich aufgenommen und wenn jemand Hilfe benötigte, durfte er nicht zögern.
Er holte mit weiten Schritten aus und ließ den Blick durch die Straßen gleiten. Plötzlich stockte sein Gang; was, wenn es nicht der Fluss gewesen war, der das Unglück verursacht hatte, sondern der Drache? Aber würde er ohne Grund angreifen? Die Menschen Kasumitanis konnten wohl kaum seinen Zorn auf sich gezogen haben?! Oder war es nicht der Wille des Drachen, sondern der seines neuen Gebietenden? Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. Mit einer bösen Vorahnung eilte er weiter zum Stadtrand und plötzlich tauchten mehrere große Gestalten vor ihm in den Straßen auf. Menschen in glänzenden Rüstungen und mit gezogenen Waffen fluteten die Gegend. Sie traten Haustüren ein und jagten die Bewohner hinaus.
Kei blieb wie angewurzelt stehen, er begriff: Dies war nicht das Werk des Drachen, Kasumitani wurde angegriffen!

Coverdesign des Fantasy Romans "Oryuuji - Im Reich der Herrscherin". Im Zentrum ist eine rote japanische Burg in einer Schneelandschaft mit Bergen. Oberhalb steht der Titel in mattgoldenen Lettern. Unterhalb der Burg steht der Name der Autorin: Britta Hanske

ORYUUJI – Im Reich der Herrscherin

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