Leseprobe – ORYUUJI – Die Suche

Kapitel 1

Als Kei zu seinen Freunden Satoshi und Haruka zurückkehrte, staunten diese nicht schlecht, als sie erfuhren, dass das Oberhaupt Watanabe ihnen dreien eine eigene Mission zugeteilt hatte. Doch Haruka ließ nicht zu, dass Kei sämtliche Details mit ihnen besprach, da sie befürchtete, es könne jemand aus der Tempelgemeinschaft mithören und die geheime Mission gefährden. Stattdessen gingen sie ihren Aufgaben nach und warteten gespannt darauf, dass Watanabe Kei zu sich rief. Die Stunden verstrichen, ohne dass sich etwas rührte und als Kei zur Nachtwache an das Haupttor abbestellt wurde, fragte er sich, ob Watanabe ihn vergessen oder es sich anders überlegt hatte. Während Kei am Tor auf und ab ging, kam Raika, eine hochgewachsene Wächterin mit Hakennase, auf ihn zu und teilte ihm mit, dass sie seine Wachablösung sei und er sich in Watanabes Räumlichkeiten bei den Wächterquartieren einfinden solle. Aufgeregt eilte er davon, doch als er das Quartier betrat, war sein Meister nicht vor Ort. Verwirrt trat er in den Gang zurück und überlegte, wo Watanabe sein könnte, als Saotomi, eine Wächterin höheren Ranges, auf ihn aufmerksam wurde.
„Oh Kei, wie gut, dass du mir gerade über den Weg läufst!“. Sie schnappte ihn kurzerhand am Ärmel und zog ihn mit sich. „Masanori ist krank geworden und mir fehlt ein Wachposten. Geh zur Pagode und sieh nach dem Rechten.“
„Aber ich soll mich bei Meister Watanabe melden“, erklärte Kei und versuchte sich irgendwie aus dem Schlamassel zu befreien, doch Saotomi war ihm übergeordnet und trotz ihrer freundlichen Art konnte sie sehr bestimmend sein.
„Ich werde Watanabe in Kenntnis setzen, dass du dich später bei ihm meldest“, sagte sie und bugsierte Kei vor die Tür. „Vergiss nicht, die Pagode zu kontrollieren!“
Missmutig trottete Kei zur Pagode auf dem Tempelgelände und fluchte innerlich auf diesen Reinfall. Wie sollte Watanabe ihm jetzt weitere Informationen zukommen lassen? Mürrisch schweifte sein Blick an dem alten Bauwerk hinauf, das den zurückliegenden Angriff auf die Gemeinschaft unbeschadet überstanden hatte und sich nun schwarz vor dem nächtlichen Himmel abhob. Kei betrat die Pagode, schob die Tür hinter sich zu und sah sich aufmerksam um. Zwei spärliche Lampen sorgten für etwas Licht, doch etwas war anders als sonst, jemand war hier, das spürte er. Die Schiebetüren, die den inneren Stützpfeiler umgaben und einen eigenen Raum bildeten, waren alle verschlossen. Sein Blick wanderte die Stiege hinauf, als plötzlich ein grün-gelbes Augenpaar aufblitzte und ihn anstarrte. Erschrocken zuckte Kei zusammen und erkannte im selben Augenblick, dass es nur eine der Katzen des Tempels war. „Hast du mich erschreckt“, flüsterte er mit rasendem Puls. Die Katze stand auf, sprang die Stufen hinunter und strich ihm, in der Hoffnung auf ein paar Streicheleinheiten, schnurrend um die Beine.
Kei musterte die verschlossenen Schiebetüren und beschloss, den dahinterliegenden Raum ebenfalls zu kontrollieren. Sicherheitshalber legte er eine Hand an sein Schwert und schob vorsichtig eine der Türen beiseite. Alles war finster und nur der Schein der Lampen erhellte Teile des Raumes. Die Katze sprang an ihm vorbei in die Dunkelheit, lief maunzend in eine der hinteren Ecken und schnurrte. Als Kei ihr mit den Augen folgte, entdeckte er den Schatten einer Gestalt, die sich in der Ecke verborgen hielt. Die Katze schmiegte sich an ihre Beine und rieb ihr Köpfchen daran. Kei lief ein kalter Schauer über den Rücken, er griff nach seinem Schwert und rief auffordernd: „Wer ist da?“
Die Person lachte leise, streichelte der Katze über den Kopf und trat aus dem Schatten in den Lichtkegel. „Meister!“, rief Kei überrascht und ließ das Schwert sinken. „Was macht Ihr denn hier? Ich dachte …“
„Du dachtest, jemand hätte sich unbefugten Zutritt verschafft?“
„Ja“, gab Kei zu und steckte das Schwert zurück.
„Verzeih, ich wollte unser Treffen möglichst unauffällig gestalten. Nun denn, komm zu mir.“ Während Kei den Raum durchquerte, öffnete sich hinter seinem Meister plötzlich eine Schwingtür und ein winziger, dunkler Zwischenraum wurde sichtbar.
„Was ist denn das?“, fragte Kei verdutzt, als er in den Zwischenraum spähte. Eine schmale Stiege führte in die Dunkelheit hinunter.
„Das ist ein Geheimgang. Die Pagode besitzt viele dieser Gänge“, erklärte Watanabe. „Geh hinunter, aber sei vorsichtig, die Stufen sind sehr steil.“
Staunend schob Kei sich in den Hohlraum. Offenbar waren die Wände so angelegt, dass zwischen ihnen Platz für kleine Geheimgänge blieb. Es war so eng, dass er sich gerade noch hinunterschieben konnte, für jemanden mit kräftigen Knochen gab es kein Durchkommen. Kei hörte es über sich knarren und die geheime Drehtür schloss sich über seinem Kopf. Nun war es stockfinster und er tastete sich langsam die Stufen hinunter. Plötzlich stand er vor einer Wand aus Brettern und der schwache Schein einer Kerze drang zwischen den Ritzen hindurch. Kei befühlte das Holz und suche nach einem Mechanismus, die Wand ließ sich einfach beiseiteschieben. Vor ihm lag ein winziger Raum mit niedriger Decke, in der Mitte stand eine Kerze auf dem Boden und Haruka hockte auf der gegenüberliegenden Seite. Sie hatte ein Bein angewinkelt, die Arme darum geschlungen und den Kopf auf das Knie gestützt. Als Kei zu ihr trat, sah sie zu ihm auf und nickte ihm zu. Auf dem Boden lagen ein paar Taschen, die offensichtlich erst kürzlich hier deponiert worden waren. Es roch leicht muffig und die Luft war kühl.
„Wartest du schon lang?“, fragte Kei und sah sich in dem kleinen Raum um. Die Wände waren alle mit Holz vertäfelt, doch ansonsten gab es nichts zu sehen außer Staub und ein paar Spinnweben. Selbst die verschiebbare Wand passte sich ihrer Umgebung so unauffällig an, dass man nicht hätte ahnen können, was dahinter lag. „Erstaunlich, dass es in der Pagode diese geheimen Gänge gibt. Wir haben all die Jahre hier gespielt und nie etwas davon gewusst. Dabei hielt ich uns für diejenigen, die die Pagode am besten kennen müssten,“ sagte Kei und musterte Wände und Decke.
„Ich frage mich, was uns noch alles verborgen ist, von dem wir nichts ahnen“, sagte Haruka und lauschte. Leise Tritte näherten sich auf den Stufen und Satoshi, gefolgt von Watanabe, betrat den Raum. Satoshi sah mindestens ebenso beeindruckt aus, wie Kei sich fühlte.
„Ist alles gut gegangen?“, fragte Watanabe wachsam, nachdem er die Wand hinter sich zugeschoben hatte. „Irgendwelche Zwischenfälle?“ Alle drei schüttelten den Kopf. „Sehr gut, dann kommen wir gleich zur Sache. Hat Kei euch bereits in alles eingeweiht?“ Alle drei verneinten und Haruka erklärte, dass es ihr zu unsicher gewesen sei in der Öffentlichkeit über den Auftrag zu sprechen. Watanabe schmunzelte und rieb sich die Hände. „Dann platzt ihr wahrscheinlich schon vor Neugierde? Aber ich will euch nicht länger auf die Folter spannen und erzählen, was ich mir überlegt habe. Zunächst einmal war es klug von euch, nicht über die Mission gesprochen zu haben. Ihr fragt euch vielleicht bereits, weshalb wir uns hier unten unter strengster Geheimhaltung treffen. Nun, das liegt daran, weil ich als einziger von diesem Auftrag weiß, abgesehen von euch natürlich, und ich habe auch nicht vor es irgendjemand anderen zu erzählen. Diese Mission ist absolut geheim und ich möchte, dass niemand außer uns vieren davon erfährt.“ Kei, Haruka und Satoshi nickten bekräftigend und hörten weiter gespannt zu, während Watanabe noch einmal erklärte, um was für einen Auftrag es sich handelte.
„Wir sollen uns also über den Verbleib unserer Leute Gewissheit verschaffen“, fasste Haruka zusammen. „Meister, wenn wir es nach Yamauka hineinschaffen, sollten wir dann nicht auch gleich nach der Statue forschen? Zum jetzigen Zeitpunkt steht noch nicht fest, ob sie tatsächlich für den Raub verantwortlich sind, aber die Hinweise verdichten sich. Es könnten sich aber auch um einen Zufall handeln oder um eine absichtlich herbeigeführte Verbindung der Ereignisse.“
„Du bist schlau und denkst mit“, lobte Watanabe. „Nun, in erster Linie möchte ich, dass ihr euch auf meinen ursprünglichen Auftrag konzentriert. Lasst mir regelmäßig Nachrichten zukommen, damit ich immer Bescheid weiß, wo ihr euch aufhaltet. Sollten es die Umstände zulassen, dass ihr etwas über die Statue herausfindet, könnt ihr dem nachgehen, aber nur solang ihr euch dabei nicht in Gefahr begebt. Keine riskanten Aktionen, verstanden?!“ Die drei nickten erneut. „Schön. Ich habe mir gedacht, dass die Erklärung für euer Verschwinden am sinnvollsten ist, wenn wir sie mit Aiyumis Fall in Verbindung bringen. Einer von euch verfasst eine Abschiedsnotiz. Kei, am besten übernimmst du das und ich werde sie unauffällig in Umlauf bringen.“
„Wird man nicht nach uns suchen?“, fragte Satoshi.
„Natürlich! Allerdings haben wir bereits zu viele Leute verloren, als dass ich ein paar davongelaufenen Schülern extra einen Suchtrupp hinterher jage.“ Watanabe schmunzelte vielsagend, dann jedoch wurde er wieder ernst. „Tatsächlich mache ich mir so meine Gedanken, wie ich unsere Leute am besten schützen soll. Insbesondere die Kinder bereiten mir Sorgen. Sollte es wirklich zu weiteren Angriffen kommen, können wir sie hier überhaupt noch beschützen? Vielleicht wäre es besser, sie zu ihren Verwandten in die Städte zurückzuschicken …“
„Bestimmt nicht!“ entgegnete Haruka. „Wenn es zu einem Krieg kommt, werden die Städte doch sicher zuerst angegriffen, oder? Und außerdem, wer soll sie dort verteidigen? Die Menschen dort sind keine ausgebildeten Krieger so wie wir. Wenn jemand unsere Kinder beschützen kann, dann wir selbst.“
Watanabe lächelte zufrieden und musterte Haruka wohlwollend. „Es ist gut zu wissen, dass wir eine verantwortungsbewusste, junge Generation herangezogen haben. Aus dir wird sicher einmal eine große Persönlichkeit, Haruka.“
Kei verspürte einen kleinen Stich in seinem Herzen. Watanabe war von Haruka überzeugt und verließ sich auf sie, doch traf das auch auf ihn zu? War er in den Augen seines Meisters verantwortungsvoll? Unzählige Male hatte Kei verlauten lassen, dass er es im Tempel nicht aushielt, dass er eines Tages fortgehen würde, weil ihm die Regeln nicht passten. Wie oft hatten sie ihn irgendwo aufgelesen und bestraft, weil er sich wieder hinausgeschlichen hatte. Keis Gedanken hatten sich immer nur um sich selbst gedreht und damit beschäftigt, wie er seine eigene Situation verbessern konnte. Welchen Eindruck er damit auf den Rest der Gemeinde gemacht hatte, hatte ihn nicht interessiert. Konnte Watanabe so jemandem vertrauen? Haruka hingegen dachte über alle Bewohner nach und sorgte sich um ihre Zukunft. Satoshi besaß sowieso mehr Pflichtgefühl als er. Sie kamen ihm plötzlich reifer und erwachsener vor als er sich selbst noch vor Kurzem.
Watanabe ging zu den Taschen am Boden, lüftete eine Decke und darunter kam ein Schwertständer zum Vorschein. Darin lagen mehrere Schwerter in Schwertscheiden und der alte Mann nahm die obere Klinge und wandte sich an Haruka. „Haruka. Nach unserer Tradition bist du eigentlich noch zu jung, um eine Wächterin zu sein, doch wir alle wissen, dass du längst einer Wächterin ebenbürtig bist. Da du in wenigen Wochen deinen fünfzehnten Geburtstag feierst, erhebe ich dich hiermit in den Stand einer Wächterin.“ Feierlich überreichte Watanabe ihr das Schwert.
Haruka starrte die Klinge in den alten Händen ihres Meisters an, nahm sie dann jedoch respektvoll entgegen. „Vielen Dank, Meister Watanabe!“ Sie verbeugte sich tief und betrachtete andächtig das Schwert in ihren Händen. Die Klinge war knapp so lang wie ihr Arm und schimmerte silbrig, als sie es leicht aus der hellbraunen, glatt polierten Schwertscheide zog. Der Schwertgriff war kunstfertig mit einem hellbraunen Band umwickelt, Stichblatt, Klingenzwinge und Öse waren aus Gold und mit einfachen Mustern verziert.
„Es ist simpel, aber effektiv und genau richtig für euren Einsatz“, erklärte Watanabe und wandte sich nun Satoshi zu. „Satoshi, ich bin mir sicher, du teilst meine Meinung, dass es für dich noch etwas zu früh ist, dich in den Stand eines Wächters zu erheben.“ Satoshi nickte geknickt. Selbst Watanabe hielt ihn noch nicht für reif genug. Wer wusste schon, ob er jemals das nötige Potenzial erreichen würde, um zum Wächter ernannt zu werden.
„Lass dich davon nicht verunsichern.“ Satoshi sah seinen Meister zweifelnd an. „Wir Menschen sind unterschiedlich und alles braucht seine eigene Zeit. Wer sich vergleicht und versucht, den Weg eines anderen zu gehen, wird scheitern. Folge deinem Weg, selbst wenn du im Augenblick nicht verstehst, wo er dich hinführt. Dir mag es wie ein Irrweg vorkommen, aber irgendwann kommt der Moment, da liegt alles klar vor dir.“ Satoshi schöpfte ein wenig Mut, auch wenn er sich bei weitem nicht vorstellen konnte, dass seine jetzige Irrfahrt tatsächlich zu einem Ziel führen sollte und irgendwann Sinn ergeben würde.
„Deshalb werde ich dich heute nicht zu einem Wächter ernennen, aber du bleibst Wächteranwärter und ich vertraue darauf, dass du bei eurer Mission deine Potenziale erkennen und entfalten wirst.“ Watanabe nahm ein kurzes Schwert, das dem von Haruka äußerlich glich, nur hatte es Metallbeschläge anstelle von Gold, und übergab es trotz allem feierlich an Satoshi. „Diese Klinge ist eine Leihgabe. Verdiene dir dein Schwert und halte dieses in Ehren, bis du es mir zurückbringst.“
Satoshi nahm es ehrfürchtig entgegen und verneigte sich tief. „Ich werde mein Bestes geben, Meister!“, versicherte er dankbar und voller Stolz.
„Schön, schön“, lächelte Watanabe und blickte zu Kei. „Du hast dir dein Schwert bereits verdient und ich habe nichts, was ich dir geben könnte, das deiner Klinge gleichkommt. Aber ich möchte, dass du diese Schwertscheide mit deiner jetzigen tauschst.“ Watanabe griff nach dem mattschwarzen Stück und reichte es Kei. „Würdest du mit deinem reich verzierten Schwert die Wälder durchstreifen, würdet ihr sofort auffallen, deshalb bitte ich dich, dein Schwert stattdessen in dieser schlichten Schwertscheide zu tragen.“ Kei nickte verständnisvoll und nahm die Gabe Watanabes entgegen. Der alte Mann beobachtete, wie Kei die Wehrgehänge tauschte, wobei Aiyumis Schwert blank in seinem Gürtel blitzte. Er hatte es mitgenommen, in der Hoffnung, es seiner Freundin bald zurückzugeben.
„Aiyumis Schwert …“, murmelte Watanabe leise. Kei sah kurz zu ihm auf, blickte dann auf das Schwert und strich mit den Fingern über die Klinge.
„Ich habe gehört, dass du es bei dir trägst, aber ohne Schwertscheide ist es ungeschützt.“ Der alte Mann fuhr sich über den Bart, griff unerwartet nach seiner Klinge und zog es aus der Schwertscheide. „Nimm meine und bewahre Aiyumis Schwert darin auf, bis du es ihr zurückgegeben hast“, sagte er feierlich. Kei und die anderen sahen ihn erstaunt an und Kei stammelte: „Aber Meister, es ist Eure! Ich kann sie doch nicht einfach nehmen!“
Doch Watanabe bestand darauf. „Sie ist alt und hat viele Jahre auf den Buckel. Dennoch wird sie Aiyumis Schwert gute Dienste leisten, bis es wieder mit seiner eigenen vereint wird. Nimm sie!“
Kei gehorchte, verstaute die Klinge in der alten Schwertscheide und befestigte es an seinem Gürtel. „Wie sollen wir vorgehen, Meister?“, fragte er. „Wie sollen wir unbemerkt von hier wegkommen und welchen Weg sollen wir einschlagen?“
„Ich habe euch hier versammelt, sodass ihr euch ungesehen aus der Anlage schleichen könnt. Das hier ist euer Gepäck. Ihr findet darin alles, was ihr für den Anfang braucht. Verbergt eure Waffen, damit man euch nicht sofort als Wächter erkennt. Sobald ihr die Anlage verlassen habt, seid ihr auf euch gestellt. Reist bis nach Minamiseito und versucht von dort aus Informationen über die Lage in Yamauka zu sammeln. Laut meinen Informanten wirbt Yamauka Söldner an, auf diese Weise könnt ihr euch hoffentlich unbemerkt Zutritt verschaffen. Seid jedoch wachsam, gerade in Zeiten wie diesen werden die Truppen Yamaukas sehr genau prüfen, wen sie in ihren Reihen aufnehmen. Auch Yamauka besitzt ein Netz aus Informanten und wir wissen nicht, wie weit seine Fäden reichen. Traut niemandem und gebt niemals eure wahre Identität preis.“ Watanabe trat an eine Wand heran und auf einen speziellen Druck schwang ein Teil der Vertäfelung um ihre Achse. Der schwache Schein der Kerze ließ die Umrisse eines Ganges sichtbar werden. „Folgt diesem Gang und ihr gelangt unterhalb der Felder außerhalb der Anlage nach draußen. Dieser Gang wurde lange Jahre nicht mehr benutzt und es könnte sein, dass euch Wurzeln den Weg versperren. Seid also vorsichtig, dass ihr nicht verschüttet werdet. Ich habe scharfe Messer in den Taschen verstaut. Haltet sie griffbereit, solltet ihr sie brauchen. Am Ende findet ihr eine Bodenluke, diese ist unter einem Felsvorsprung zwischen Sträuchern verborgen. Stemmt sie auf und verdeckt sie wieder mit Laub und Zweigen, sobald ihr draußen seid. Das Flussufer ist von dort aus schnell erreichbar. Orientiert euch am Ufer, um wieder zur Straße zu gelangen.“
Anschließend musste Kei eine kurze Abschiedsnotiz schreiben, während Haruka und Satoshi sich mit ihren Taschen beluden. Nachdem Kei fertig war, musterte Watanabe seine drei Schüler eindringlich. Ein weicher Ausdruck trat auf sein Gesicht, er klopfte Satoshi und Kei väterlich auf die Schultern und drückt kurz Harukas Hände.
„Passt auf euch auf!“, sagte er mit bewegter Stimme. „Wenn ihr euch den Städten nähert, prüft zunächst die Lage und macht lieber einen Umweg, falls ihr den Eindruck habt, dass etwas nicht stimmt.“
Satoshi schluckte trocken und Kei vermutete, dass ihm das Herz genauso bis zum Hals schlug wie ihm selbst. Haruka sah reichlich finster drein, doch sie versuchte, sich alles genau einzuprägen, was Watanabe ihnen an Ratschlägen mitgab.
Kei atmete tief durch und sah Watanabe fest an. „Wir werden auf uns aufpassen. Versprochen!“ An seine Freunde gewandt, fügte er hinzu: „Es geht los. Macht euch bereit für den Aufbruch.“ Er schulterte sein Gepäck, nahm die Kerze vom Boden und trat durch die Schwingtür in den schmalen Gang. Satoshi folgte ihm auf den Fersen, doch als Haruka ebenfalls hinterher wollte, hielt Watanabe sie am Arm zurück. Verwirrt sah sie ihren Meister an und Watanabe beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr schnell ein paar Worte ins Ohr. Noch bevor sie recht verarbeiten konnte, was ihr Meister ihr zugeraunt hatte, schob er sie in den Gang und die Vertäfelung schnappte hinter ihnen zu.
Der Tunnel führte stetig bergab und bereits nach wenigen Metern wurde er niedriger und schmaler, sodass sie sich leicht ducken mussten. Hier und da erschwerten aus den Wänden gebröckelte Steine den Weg. Kei spürte, wie sich ein mulmiges Gefühl in ihm breit machte. Er wusste, dass es ein von Menschen angelegter Gang war, der irgendwann nach draußen führte, dennoch fühlte es sich an, als würden sie geradewegs hinein in die Tiefe eines Berges kriechen, der sie für immer von der Außenwelt abschnitt. Alles um sie herum war still, sodass jedes Geräusch, was sie verursachten, um ein Vielfaches lauter in ihren Ohren dröhnte. Noch ein Stück weiter und sie mussten auf allen Vieren kriechen, was insbesondere Satoshi Probleme bereitete, da sein Arm noch nicht verheilt war. Die Wände rückten so nah an sie heran, dass sie nur noch vorwärts oder rückwärts kriechen konnten. Immer wieder flackerte das Licht der Kerze gefährlich und drohte zu erlöschen, als plötzlich ein wucherndes Etwas in Keis Blickfeld rückte.
„Wir haben ein Problem“, stellte Kei mit dumpfer Stimme fest und hielt inne.
„Was ist denn?“ hörte er Satoshi besorgt von hinten fragen.
„Wurzeln. Nicht besonders dick, aber massig.“
„Vielleicht kannst du sie wegschneiden?“, schlug Satoshi vor.
Kei tastete vorsichtig den Ballen ab und augenblicklich rieselte Dreck und Erde hinunter.
„Das ist zu gefährlich. Die Wurzeln halten den Gang aufrecht. Ich fürchte, wenn ich da drangehe, wird alles in den Tunnel stürzen.“
„Ist gar kein Platz?“, fragte Haruka. „Können wir drunter durch?“
Kei musterte skeptisch den schmalen Spalt, der unter den Wurzeln durchführte.
„Es könnte gehen, wenn wir uns auf dem Bauch drunter durchschieben. Das Gepäck müssen wir aber abnehmen, sonst passen wir nicht durch. Ich werde es versuchen. Ihr wartet besser hier.“
„Auf dem Bauch durchschieben? Das schaffe ich nicht mit meinem Arm“, entgegnete Satoshi.
„Jetzt gerate nicht Panik, ich schau mir die Sache an, okay?“
Satoshi, der inzwischen das Schlusslicht bildete, rutschte ein bisschen zurück, sodass Haruka Kei Platz machen konnte. Kei bemühte sich, in der Enge des Tunnels das Gepäck von den Schultern zu schieben. Sobald er es los war, schob er es mit dem Fuß Haruka entgegen, sodass er Platz hatte, um sich auf den Bauch zu legen. So flach wie möglich, die Kerze vorsichtig vor sich herschiebend, robbte er mit dem Kopf voran in den schmalen Spalt. Wurzeln streiften seinen Kopf und Erde rieselte auf ihn hinunter. Instinktiv kniff er die Augen zusammen, um sie vor dem Staub zu schützen und arbeitete sich Stück für Stück weiter unter dem Ballen hindurch. Es war anstrengend, sich in der Enge mit Armen und Beinen voranzuschieben und dabei möglichst nirgendwo hängen zu bleiben. Kleine Schweißperlen tropften von seiner Stirn und in seinen Ohren pochte das Blut. Vorsichtig tastete er mit den Händen nach dem Weg, das Geflecht streift seinen Rücken und wieder bröckelte Erde auf ihn hinunter. Kei hielt inne, um sicherzugehen, dass nicht noch mehr Brocken auf ihn hinabstürzten. Zu seiner Erleichterung hielten die Wände stand und er robbte weiter, bis er den Wurzelballen endlich hinter sich hatte.
„Ich bin durch!“, rief er erleichtert, fixierte die Kerze an einer sicheren Stelle und richtete sich wieder auf alle Viere auf. „Haruka, schieb‘ meinen Rucksack vor dir her, ich ziehe ihn raus, sobald ich drankomme. Binde dir deine Tasche ans Bein, dann kannst du sie mitschleifen. Satoshi … wir ziehen dich mit einem Seil durch den Spalt. Binde es dir um und Haruka, du ziehst es mit.“
Haruka und Satoshi holten die Seile aus ihren Taschen und Haruka schob Keis Gepäck so weit wie möglich unter den Wurzelballen. „Gib mir dein Seilende“, forderte sie Satoshi auf und reichte ihm ihr eigenes. „Hier, binde sie um Brust und Hüfte, dann können wir dich ziehen.“ Sie fixierte die Seile an ihrem Gürtel, befestigte ihre Tasche am Fuß und kroch unter den Wurzeln.
Kei hörte, wie sie sich schwer atmend durch den Gang schob, mit zwei Taschen hatte sie die meiste Arbeit zu leisten. Es dauerte eine ganze Weile und er hörte nur ihren dumpfen Atem und das schleifende Geräusch der Taschen. „Geht es?“, vergewisserte er sich besorgt. Ein knappes ‚Ja‘ kam tief aus dem Spalt und bald kam sein Rucksack in Sichtweite. Kei zog sie vorsichtig hervor und krabbelte mit ihr weiter in den Tunnel hinein, sodass Haruka hinter ihm genug Platz hatte.
„Ging alles gut? Hat sich noch mehr Erde gelöst?“, fragte Kei, als sie draußen ankam.
„Mir ist ein bisschen in den Nacken gerieselt, aber es geht schon“, keuchte Haruka und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Es ist so stickig hier unten, ich hoffe wir kommen bald ins Freie … Satoshi, hast du die Seile umgebunden, wie ich dir gesagt habe?“ Satoshi bejahte und Kei schlug vor, dass er sich die Tasche ebenfalls über den Fuß ziehen und sich auf dem Rücken legen sollte, da er seine Beine so besser als Unterstützung einsetzen konnte. Haruka reichte Kei eines der Seile und gemeinsam zogen sie mit aller Kraft, um Satoshi durch den Spalt zu helfen.
Sie lauschten ab und zu und hörten Satoshi ächzen, der mit seinen breiten Schultern und dem verletzten Arm die größte Mühe hatte, durch den schmalen Zwischenraum zu kommen.
„Wartet!“, rief Satoshi plötzlich und Kei und Haruka hielten inne.
„Was ist?“, fragte Haruka in den Gang hinein.
„Ich hänge fest. Ich glaube, meine Tasche hat sich verhakt.“
„Versuche die Tasche zurückzuschieben“, schlug Kei vor, „vielleicht löst sie sich und du kommst weiter.“
Sie hörten es rumoren und Satoshi fluchen, dann wieder Stille. „Leute … hier rieselt ganz schön viel Erde auf mich runter.“
„Dann halte still! Wie weit musst du noch?“, rief Kei unruhig. „Kannst du den Kerzenschein sehen?“
„Ich schätze, ungefähr eine Armlänge“, schalte Satoshis Stimme dumpf aus dem Spalt.
„Was sollen wir tun?“, flüsterte Haruka und Kei überlegte fieberhaft. Konnten sie Satoshi samt Gepäck mit einem Ruck aus dem Gang ziehen? Aber was war, wenn die Wände dem Ruck nicht standhielten? Es war viel zu riskant …
„Ich glaube, er muss das Gepäck zurücklassen. Alles andere wäre zu gefährlich, oder?“, meinte Kei nachdenklich.
„Aber wir brauchen es …“, entgegnete Haruka nachdrucksvoll, besann sich jedoch anders und nickte seufzend, „es bleibt uns wohl nichts anderes übrig.“
Satoshi streifte den Riemen der Tasche ab und arbeitete sich ohne Gepäck und mit der Unterstützung seiner Freunde aus dem Spalt, währenddessen krochen Haruka und Kei weiter in den Gang, damit Satoshi genug Platz hatte.
„He“, rief Kei plötzlich, „hier ist ein Hohlraum!“ Die Wände des Tunnels wurden weiter und er konnte sich nicht nur um die eigene Achse drehen, sondern auch zur vollen Größe aufrichten. Mit den Händen tastete er im Schein der Kerze die Wände ab und stellte fest, dass sich hier eine kleine Kammer mitten im Gang befand. „Kommt alle in die Kammer, dann versuche ich die Tasche zu bergen.“ Nachdem alle im Zwischenraum Platz gefunden hatten, lösten sie die Seile von Satoshi und Kei kroch mit einem der Seile zurück. Viele Erdbrocken erschwerten das Durchkommen, dennoch gelangte er zu dem Rucksack und band das Seil um die Tragegurte. Vorsichtig versuchte er, ob sich die Tasche lösen ließ, doch als weitere Bröckchen auf ihn hinunter rieselten, robbte er lieber rückwärts aus dem Gang und Haruka packte seine Beine und zogen ihn das letzte Stück heraus. Als alle wieder in der Kammer angekommen waren, sollte das Seil gezogen werden, doch Satoshi hatte noch Bedenken.
„Sollten wir nicht lieber noch ein Stück in den Tunnel wandern, bevor wir die Tasche herausziehen?“, fragte er unsicher, aber Kei winkte ab, also war es beschlossene Sache. Sie packten das Seil fest und zogen auf drei kräftig daran. Es gab einen gewaltigen Ruck, die Tasche sauste ihnen plötzlich entgegen, sie purzelten übereinander und aus dem Gang hörte man dumpfe Geräusche bröckelnder Erde – einige Brocken kullerten ihnen sogar entgegen.
„Der Rückweg ist jetzt wohl versperrt“, stellte Satoshi entmutigt fest. „Hoffentlich geht es nach vorn weiter, sonst sind wir hier gefangen …“ Beklommen griffen sie nach ihren Taschen und wanderten weiter den Gang hinunter, der zu ihrer Erleichterung hoch genug war, sodass sie aufrecht weitergehen konnten. Bald verlief der Weg ebenmäßig und nach einiger Zeit tat sich vor Kei eine Wand auf.
„Hier ist das Ende“, stellte er fest, leuchtete mit der Kerze die Wände ab und suchte nach der beschriebenen Luke.
„Dort sind zwei Griffe!“, rief Haruka. „Hier über meinem Kopf.“ Satoshi und Kei sahen hinauf und tatsächlich: Dort befanden sich zwei hölzerne Klappen, die von innen mit einem Holzbalken gesichert war.
„Endlich!“, seufzte Satoshi erleichtert und ruckelte den Balken hinaus, um die Luke öffnen zu können. Er drückte gegen die Bretter, Staub rieselte auf sie hinunter und die Türen gaben zwar etwas nach, doch ließen sie sich partout nicht öffnen.
„Oh nein. Jetzt stehen wir vorm Ausgang, aber kommen nicht hinaus!“, stöhnte Kei und sah sorgenvoll nach oben.
„Bestimmt liegt allerlei Zeug auf der Luke“, vermutete Haruka, „Am besten versuchen wir es gemeinsam.“
Zusammen stemmten sie sich gegen die Klappen und mit vereinten Kräften brachen sie den Widerstand. Die Luke klappte knarzend auf und gab den Weg nach draußen frei. Frische Nachtluft strömte ihnen entgegen und sie sogen sie gierig ein. Zwischen den dichten Zweigen der Sträucher schimmerte der Nachthimmel hindurch. Beim Ausstieg zerkratzten sie sich Hände und Gesichter an den Ranken, trotzdem gelangte einer nach dem anderen mit etwas Unterstützung ins Freie. Anschließend verbargen sie die Luke unter Zweigen und Laub, krochen aus dem Gestrüpp hinaus, klopften den Schmutz grob von sich ab und schulterten ihr Gepäck.
„Der erste Teil wäre geschafft!“, sagte Satoshi stolz. Es klang, als hätten sie bereits die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, dabei waren sie es gerade mal aus den eigenen Mauern hinaus gekommen.
„Wenn wir uns ranhalten und in einem ordentlichen Tempo durchlaufen, erreichen wir noch Shinkouzai“, erklärte Haruka. „Dort können wir rasten.“
„Bis nach Shinkouzai?“, maulte Satoshi und seufzte. „Das ist noch richtig weit.“
„Alles andere wäre Blödsinn oder willst du irgendwo zwischen Nishikawa und Sankaku in der Einöde rasten?“, fragte Haruka spitz.
Natürlich hatte sie recht und so fügte sich Satoshi murrend den Strapazen. Die Taschen auf ihre Rücken geschnallt, wechselten sie zwischen Dauerlauf und Eilmarsch, passierten Nishikawa und folgten bis Shinkouzai dem Verlauf der Straße. Zu Beginn liefen sie geschmeidig und kamen gut voran, doch je länger sie unterwegs waren, desto stärker gerieten sie an ihre Grenzen. Alle drei keuchten unter der Belastung; das Gepäck schien mit Steinen beladen und ihre Muskeln rebellierten mit jedem weiteren Schritt. Das eine oder andere Mal hätte Kei am liebsten aufgegeben und sich einfach an den Straßenrand legen wollen, doch Harukas eiserner Wille trieb auch ihn immer wieder an. Satoshis Kondition ließ noch mehr zu wünschen übrig und in den kurzen Pausen, bei denen sie wenige Minuten rasteten, erklärte er immer wieder, keinen Schritt mehr weitergehen zu können. Jedoch ließ Haruka keine Ausflüchte gelten und Kei redete seinem Freund aufmunternd zu, sodass sie immer wieder von ihren Reserven schöpften. In der Morgendämmerung erreichten sie endlich die Stadt und als die ersten Sonnenstrahlen auf das feuerrote Tor fielen, wurden sie für ihre Anstrengungen mit einem fantastischen Anblick belohnt.
„Wartet!“, sagte Kei. „Wenn wir durch das Tor gehen, gelangen wir sehr bald in die Stadt. Lasst uns kurz beraten, wie wir vorgehen.“
„Wir sollten uns schnell eine Unterkunft suchen und ausruhen“, murrte Satoshi. Er sah ungeduldig aus, die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben, aber auch Haruka konnte ihre Erschöpfung nicht mehr allein durch Willensstärke ausblenden.
„Was, wenn wir Misstrauen erwecken?“, warf sie ein. „Es ist gerade mal Tagesanbruch, aber wir sind erschöpft, müde und vor allem dreckig. Wenn wir versuchen, in einem Gasthaus einzukehren, fallen wir sofort auf und jeder kann sich denken, dass wir die Nacht durchgelaufen sind. Sollten Kundschafter im Gasthaus sein, bemerken die uns bestimmt.“
„Ich hab‘ eine Idee“, sagte Kei, „wir gehen zu Frau Hayashi. Sie war damals meine Nachbarin und lebt auch heute noch in dem Haus. Bei ihr können wir rasten, ohne aufzufallen.“ Mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden und so setzten sie ihren Weg durch das mächtige Tor fort und betraten die Stadt.

Das Coverdesign der Fantasy-Reihe Oryuuji: Im Zentrum ist die Gestalt einer im Wasser treibenden Frau zu sehen. Wasserpflanzen und ein weißer Schleier bedecken sie leicht. Darüber steht der Titel in Grau und rosa Lettern: Oryuuji - Die Suche. Die Hintergrundfarbe ist schlammig grün. Im unteren Bereich steht der Name der Autorin: Britta Hanske

ORYUUJI – Die Suche

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